02 Jul Zwischenblick Juni – Juli 2022
Heute ist Samstag. Ich sitze auf meinem Balkon, sämtliche Nachbarn haben die Rasenmäher angeworfen. Es lärmt, um mich aber auch in mir. Idyllische Ruhe war vorher. In den frühen Morgenstunden saß ich schon einmal ebenda, genoß das Vogelkonzert und den aufziehenden Sommerduft. Irgendwann kam ein Jogger die Straße entlang gelaufen. Sehen konnte ich ihn nicht, mein Balkon geht hinten raus. Ich hörte also, wie er schwer atmend seinem Telefongesprächspartner (davon gehe ich aus, denn es war ein Monolog) lautstark seine sozialpolitischen Ansichten entgegen bölkte. Und damit auch meiner gesamten Straße, denn selten ist diesen kopfhörertelefonierenden Mitmenschen bewusst, wie groß ihr Mitteilungs-Radius ist.
Zwischen (un) Menschliches
Und speziell diese Mitteilung dieses Joggers hat mir die Sprache verschlagen. Ich versuche hier eine möglichst originalgetreue Wiedergabe (auch wenn es mich wirklich graust): „… gut, dass Putin die Ukrainer abknallt, diese Verräter …“ Ich merke, wie mir wieder das Herz rast, wenn ich das nur schreibe. Heute morgen wollte ich also raus auf die Straße und nachfragen, ob ich mich vielleicht verhört habe oder es vielleicht nur ein Zitat außerhalb des Kontextes war – auf jeden Fall wollte ich reden, doch zu spät: der Jogger war weg.
Ich starrte stattdessen auf die Wegwarte, die in diesem Jahr über zwei Meter hoch geschossen ist, sinnierte kurz über die Geschichte vom Mädchen mit den blauen Augen, das am Wegesrand wartet und bin entsetzt. Entsetzt über die – gefühlt überall – zunehmend aggressive Stimmung, egal zu welchem Thema. Entsetzt über speziell des Joggers menschenverachtende Wortwahl. Entsetzt über die beschränkt pseudopolitische Stimmungsmache mancher Menschen, in der die eigene Frustration oder Leere gefährlichen Ausdruck findet.
Ich will und werde mich nie in hilfloser Lähmung wiederfinden und wegschauen oder weghören. Was also kann ich tun? Ich bin mir völlig im Klaren, dass ich keine Inhalte, keine Fakten, keine Überzeugungen zum tagespolitischen Weltgeschehen beizutragen habe, um meine Umwelt sinnstiftend bereichern zu können. Also: Was kann ich tun?
Ich schreibe. Jetzt.
Zum Schreiben fasse ich – zuerst ganz profan Stift und Papier oder Tastatur. Im Schreiben fasse ich mich, dann das Thema, auch wenn es anfangs unfassbar erscheint. Dann fasse ich das dabei Erkannte zusammen, gewinne meine Fassung. Die Fassung bestärkt meine Haltung. Glücklicherweise habe ich erkannt, dass meine berufliche Stärke das „Unterhalten“ ist, also baue ich am festen Fundament meiner Haltung für die Unterhaltungen, die dann bestenfalls auch Unterstützung sein können. So sehe ich das – heute, an diesem Samstag im Juli – vielleicht finde ich ja noch den Bogen von der Unterhaltung über die Nebenhaltung/Mithaltung … Überhaltung sollen andere.
Ich schreibe heute und hier weniger als gewohnt über meinen vergangenen Juni mit acht Konzerten zwischen „Minas Sommer“ samt Köpper vom Dreier, mehrfacher „Carmen“, herzerfrischender „Rosepin“ sowie meinen Inthega-Messe-Besuch, auch wenn das immer nahtlo (dazu gibt es Detailliertes im letzten Blogartikel oder auf Facebook). Ja, es war ein wirklich anspruchsvoller Monat mit vielen eindrucksstarken Begebenheiten und Begegnungen.
Es war aber auch ein Monat, in dem ich der Vergänglichkeit intensiv begegnete: Mehrere Menschen aus meinem nahen Umfeld haben in den vergangenen Wochen das Zeitliche gesegnet. Was für ein starkes Bild in dieser Formulierung ruht: das Zeitliche segnen. Segnen bedeutet nach meinem Verständnis, das Gute und Gedeihliche wünschen und aktiv fördern. Hier nun dem Zeitlichen. Denn jenseits dieses Erdenlebens sind wir außerhalb von Raum und Zeit, egal welcher Glaubensrichtung wir in diesem Leben folgen. Wie lange wandle wohl ich noch auf dieser Erde? Was möchte ich in dieser Zeit noch erschaffen? Womit möchte ich das Zeitliche dereinst segnen?
Zwischen (un) Zeitliches
Am 21. Juni war Mittsommer. Da hat die Sonne ihren höchsten Stand erreicht; blieb dort für einige Tage wie reglos, um jetzt wieder langsam – Tag für Tag ein Minütchen – hinabzusteigen. Ja, wir befinden uns genau gegenüber von Weihnachten! Als christliche Entsprechung wird zu ehren von Johannes dem Täufer am 24.6. der Johannistag begangen und tatsächlich sind einige Heilkräuter zu diesem Zeitpunkt am kräftigsten. So habe ich wirklich prächtiges Johanniskraut und Steinklee geschnitten – siehe Beitragsfoto. Johanniskraut ist ein guter Wundheiler, Stimmungsaufheller und Nervenpfleger. Es schützt vor Gewitter und bringt im Winter als Tee oder Badezusatz genossen, die Sonne wieder. Und das passt, denn manchmal wird es überraschend dunkel, auch im Sommer, wenn morgens ein Jogger spricht.
Viele Gewitter gab es also in den vergangenen Tagen, mit Hagel und Sturm und auch mit bösen Worten. Manchmal kämpft sich die Sonne ja noch erhellend durch die Wolken des abziehenden Gewitters und dann gibt es einen Regenbogen.
Ich habe seit langem einmal wieder eine komplette Regenbogenbrücke gesehen, und das stimmt mich zuversichtlich und hoffnungsfroh: So konnten vielleicht all meine lieben, in diesem Monat Verstorbenen wohlbehalten hinüber in ihr neues Sein gelangen. Vielleicht kündigt es auch ein zukünftiges, wohlwollendes Nebeneinander aller verschiedenen Couleurs an. Und vielleicht erfreut es auch einfach nur das Gemüt der Dannheimerin, die sich nicht aufmacht, um am Fuße des Regenbogens den Goldtopf zu suchen. Der findet sich anderswo. Sei’s drum.
Über den Tellerrand – was entsteht woraus?
Nun neigt sich der Tag dem Ende zu. Ich gehe noch einmal durch den Garten und bilanziere: Die Vögel haben sich meine zwei einzigen Kirschen vom „Schneider Knorpel“ schmecken lassen, gegönnt! Der Schmetterlingsflieder „Black Knight“ ist heute aufgeblüht und duftet wirklich betörend, lasst es euch schmecken, ihr Schmetterlings-Prinzessinnen und Bienen-Königinnen!
Und was das aufregendste ist: Die Libellen sind heute geschlüpft. Ein wirklich magisches Ereignis, über das ich HIER letztes Jahr schon schrieb. Diese vorletzte der drei Metamorphose-Stufen, der die Prachtlibelle da heute irgendwann im Laufe des Tages still und unbemerkt entschlüpft ist, sieht wirklich furchterregend, ich möchte fast sagen aufregend scheußlich aus und ist doch nur noch eine zarte, papierleichte, leere Hülle.
Dieser Gedanke bringt mich abschließend zurück zu dem Jogger von heute morgen. Wer weiß, viellicht ist auch er heute über den Tag still und unbemerkt seiner hässlichen Pelle entstiegen und ein empfindsamer, liebevoll emphatischer Mitbürger wandelt jetzt hier durch die Straßen und fragt sich: War was heute morgen?
Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende, egal, wo Sie gerade sind und was Sie derzeit beschäftigt. Mögen liebevolle und emphatische Mitmenschen Sie unterstützen und begleiten, auch wenn es mal schwierig ist.
Ihre frisch ernannte Speisekammersängerin* Franziska Dannheim
*Zur Erklärung dieses Titels müssen Sie meinen Juni-Zwölfer lesen.
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