Sonntag – tot oder ewig

Heute ist Totensonntag. So nennen oder nannten die Menschen evangelischen Glaubens diesen Tag. Es ist der letzte Sonntag vor dem Advent und beschließt damit das Kirchenjahr. Ein guter Anlass, nicht nur um der Verstorbenen zu gedenken und ihre Gräber zu schmücken, sondern auch, um zu bilanzieren. Was ist in diesem Jahr alles geschehen? Welch großartige Übung, all das, was da „aufploppt“, in stiller Akzeptanz ziehen zu lassen!

„Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß …“

Ja, dieser Sommer war wirklich sehr groß. Und bei diesem wundervollen Herbstanblick muss ich unweigerlich an Rilkes Gedicht denken, das Sie HIER in Gänze nachlesen können.

Für meinen Geschmack ist Rilkes Betrachtung tendenziell zu fatalistisch. Was mich an diesem Gedicht aber tief anspricht, ist die Vehemenz: Los, schau dir das JETZT an. Lass das Leben nicht an dir vorbei ziehen, lass dich von den Wogen nicht unterdrücken! Surfe auf den Herausforderungen deiner Zukunft entgegen!

Die große Jahresbilanz kommt ja bei den meisten zu Sylvester. Auch ich schreibe jede Silvesternacht vor dem Zubettgehen meinen kleinen Bericht. Außerdem wird es Dank und unter Anleitung von Judith Peters und ihrer Content Society in diesem Jahr meinen ersten „Jahres-Rück-Blog“ geben. Wer sich für dieses Format interessiert und dabei sein möchte: HIER

Zurück zum Totensonntag

Die einzige Verbindung, die ich als Jugendliche zu diesem Tag hatte, war, dass Samstagnacht um 12 Uhr in der Diskothek die Musik ausging, das Licht dafür an. Voll blöd! Dass der „stille“ Feiertag eben genau in dieser Stille Raum für Kontemplation eröffnet, war mir damals leider noch nicht vermittelt worden.

Den Toten zu gedenken, das bedeutet ja auch, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden. Sich in günstiger Einsicht auch darüber Gedanken zu machen, was im eigenen Leben noch geschehen soll oder darf.

Vor einigen Jahren beschlossen die Protestanten dann, diesem Tag, das heißt eher dem Namen dieses Tages, den düsteren Schrecken zu nehmen: Sie nennen ihn seither „Ewigkeitssonntag“. Mit dem christlich evangelischen Hintergedanken, dass nach dem Tod das ewige Leben wartet. Wo? Wofür?

Da muss ich direkt anführen, dass mir diese Vorstellung oder der Begriff „Ewigkeit“ vielleicht noch mehr Unbehagen einflößt, als „Tote“. „Das dauert ja eine Eeeeeewigkeit“ … wer hat beim Vernehmen dieses umgangssprachlichen Seufzers bitte eine positive Konnotation?

Ewigkeit ist linear

zumindest in meiner Vorstellung. Ewig ist irgendwie außerhalb, abgetrennt und fern von hier. Ich denke, man merkt, dass ich in den vielen Jahren meiner bewussten religiösen und spirituellen Auseinandersetzungen – trotz reizender und versierter Gesprächspartner – im christlichen Glauben meine Fragen nicht beantwortet finde.

„Unendlichkeit“ gefällt mir persönlich viel besser, sie ist zeitlos. Vielleicht zirkular. Ich habe weder Angst vor dem Sterben noch vor dem Tod. Möchte gut vorbereitet sein und den Übergang dann bitte auch bewusst erleben. Habe in diesem Leben ja nur diese eine Chance. Und dann?

Dazu fallen mir direkt zwei Werke des auf ewig Unerreichbaren ein: Wolfgang Amadeus Mozart. Sein Lied „Abendempfindung“, hier in einer Aufnahme mit Christiane Karg, bei der Sie direkt den Text mitlesen können.

Das zweite Stück ist die grandiose Kantate „Ihr, die ihr des unermesslichen Weltalls Schöpfer ehrt – unüberlesbar von seinen freimaurerischen Überzeugungen geprägt. Der Text stammt von Franz Heinrich Ziegenhagen und war tatsächlich das Abschlusswort einer seiner programmatischen Schriften. Mozart hat es – wahrscheinlich in tief überzeugter Zustimmung – direkt und ohne „Verdichtung“, also ohne Versmaß, vertont.

Ich erlaube mir, diesen Text von Ziegenhagen hier genauso niederzuschreiben, wie ich ihn zu unserem Programm „Mozartiade“ am 18.12.22 im Bürgermeisterhaus singen werde:

Brandaktuell und ewig gültig

„Die ihr des unermeßlichen Weltalls Schöpfer ehrt, Jehova nennt ihn, oder Gott, nennt Fu ihn, oder Brahma. Hört! hört Worte aus der Posaune des Allherrschers!

Laut tönt durch Erden, Monde, Sonnen ihr ewger Schall, hört Menschen, hört, Menschen, sie auch ihr!

Liebt mich in meinen Werken, liebt Ordnung, Ebenmaß und Einklang!

Liebt euch selbst und auch einander. Körperkraft und Schönheit sei eure Zier, Verstandeshelle euer Adel! Reicht euch der ewgen Freundschaft Geschwisterhand, die nur ein Wahn, nie Wahrheit euch so lang entzog!

Zerbrechet dieses Wahnes Bande, zerreißet dieses Vorurteiles Schleier, enthüllt euch vom Gewand, das Menschheit in Sektiererei verkleidet! Zu Sicheln schmiedet um das Eisen, das Menschen-, das Bruderblut bisher vergoß! Zersprenget Felsen mit dem schwarzen Staube, der mordend Blei ins Menschenherz oft schnellte!

Wähnt nicht, daß wahres Unglück sei auf meiner Erde! Belehrung ist es nur, die wohltut, wenn sie euch zu bessern Taten spornt, die Menschen, ihr in Unglück wandelt, wenn töricht blind ihr rückwärts in den Stachel schlagt, der vorwärts, vorwärts euch antreiben sollte.

Seid weise nur, seid kraftvoll und seid Geschwister! Dann ruht auf euch mein ganzes Wohlgefallen, dann netzen Freudenzähren nur die Wangen, dann werden eure Klagen Jubeltöne, dann schaffet ihr zu Edens Tälern Wüsten, dann lachet alles euch in der Natur. Dann ist’s erreicht, des Lebens wahres Glück!“

Mir ist in diesem Jahr – und der Sommer war groß – wieder einmal bewusst geworden, welch großes Privileg und Geschenk es ist, diesen, meinen Beruf zu haben, diverse Berufungen zu verspüren und all diese schillernden Partikel langsam zu einem prächtigen Mosaik zu formen. Die wichtigste Ingredienz all meiner unterschiedlich geflochtenen Zöpfe ist die Musik. Dazu kommen Poesie, Philosophie, Spiritualität und eine große Liebe zu Mutter Natur. Erstaunlich, dass mich dennoch nahezu ständig eine feine und subtile Form von Heimatlosigkeit begleitet. Im kommenden Jahr lebe ich 30 Jahre in Essen!

DREISSIG Jahre in NRW

das ist mehr als die Hälfte meines Lebens, und ich fühle mich immer noch als Gast – gern gesehen, aber Gast. Um meine geschätzte Freundin Gertrud zu zitieren: „Gästin“. Schon lange vor jedweder Genderifizierung steht es so bei den Brüdern Grimm im Wörterbuch, aber das nur am Rande.

Wie will ich dem begegnen nun, den Fragen: Wo komme ich her? Wo will ich hin und wo will ich sein?

Ich habe mich entschieden, den Wünschen und Träumen und Ideen Taten folgen zu lassen. Vielmehr glaube ich, dass es sinnvoll ist, meine Taten, gewissermaßen als Vorab-Leistung, als Geschenk in großer Hingabe zu zelebrieren, um die Erfüllung zu ermöglichen, das Universum quasi einladen, sich um das Gedeihen meiner Belange zu kümmern. JETZT, nicht irgendwann … Jetzt bin ich noch im Besitz einer recht erfreulichen Gesundheit. Also los: Ich berufe mich auf meine „Langsamkeit“, meine Naturverbundenheit und meine Lust am Gehen und werde wieder Fernwandern:

franzi geht dann heim

Der Titel zur Tour ist schon gefunden. Und es wird etwas mit Musik zu tun haben. Wie genau, das baldowere ich gerade aus: es wird unterschiedliche Stationen an meinem Weg geben, an denen ich – gerne mit Kollegen – kleine schlichte Konzerte geben möchte – Kategorie „Stubenmusi“.

Die Tour startet an meiner Haustürschwelle, am Baldeneyer Berg, also bei der Heimlichen Liebe. Hier beginnt der „Bergische Weg“.

Dann kreuze ich auf den Jakobsweg, den HW1, den HW8 und zum Schluss auf den Maximiliansweg, um damit entlang der Orte entscheidender Stationen meines Lebens, am Schliersee anzukommen. Eine liebe Nachbarin prägte nach meiner ersten Idee den Begriff „autobiografisches Wandern“ – hervorragend.

So werde ich am 25. Juni 2023 – nach einem „Aufbruchs-Konzert“ im Bürgermeisterhaus in Werden losgehen. Wie lange ich für die dann vor mir liegenden ca. 800 Kilometer benötige, kann ich im Moment noch nicht genau sagen. Wo ich entlang dieser Route „aufspielen darf, kann und werde ist auch noch nicht fix – Ideen und Vorschläge nehme ich gerne an.

„Kein schöner Land“ wird neben weiteren Volksliedern, eigenem Kammerpop-Repertoire und Rosepin-Liedern, sicher in meinem Notengepäck sein. Wie wunderbar, dass mir der großartige Zupfinstrumentenbauer Thorsten Sven Lietz eine kleine kompakte Reise-Ukulele extra zu diesem Projekt bauen wird. Am Mittwoch wird das Holz ausgesucht, ich bin ganz aufgeregt und werde berichten.

Es ist gut, wichtig und inspirierend, Pläne zu schmieden. Das Leben kommt dann schon von selbst – oftmals anders als gedacht. Aber wie gesagt: Ich will am Ende gut vorbereitet sein und sagen können:

„Es ist Zeit. Das Leben war groß. Ich habe alle Lieder gesungen, alle Geschichten erzählt und bin alle möglichen Wege gegangen.“

Ich wünsche einen schönen Sonntagabend,

Ihre Franziska Dannheim

 

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