franzi geht dann heim – Zwischenblick Vll

Ich schaue zum Fenster hinaus, der Himmel ist bedeckt. Wie in den letzten Tagen so oft.
Heute ist also wieder ein Pausentag, und Oberstaufen im Allgäu ist nun wirklich alles andere als ein blöder Ort, um für einen Tag die Waderln und die Seele ein wenig baumeln zu lassen. Da ist es auch nur würdig und recht, dem Artikel das sonnigste Bild der vergangenen Tage als Titel zu verpassen.

Ab morgen geht es für mich dann (mit spontanen Abweichungen) auf den Maximilianweg, diesen Abschnitt des E4 (Europäischer Fernwanderweg Nr.4) der nach dem Bayrischen König benannt wurde, der hier einst die Ausmaße seines schönen Landes bereiste, bewunderte und sich dessen versicherte.

Wenn ich auf meiner Karte schaue, welcher Weg da vor mir liegt und vor allem, wieviel Weg da schon hinter mir liegt, überkommen mich heute – an einem etwas trüben Tag – durchaus gemischte Gefühle. Fragen tauchen auf, wie: wofür mache ich das eigentlich? Machen das meine Haxen noch mit? Was soll denn dabei raus kommen? Wie soll es danach weitergehen?

Beobachten kann ich, dass mir in den letzten 5 1/2 wirklich nichts gefehlt hat. Alles, was ich brauche, ist in meinem bleuen Rucksack. Gedanken an den luxeriösen Überfluss, der zuhause auf mich wartet, beklemmen mich eher.

Das Wort „Urlaub“ will plötzlich erkundet werden. UR – wie im Urwald? LAUB – wie Blattwerk? War oder ist das jetzt Urlaub, den ich mache? Immer wieder bekomme ich zu hören: Tja, wer sich das leisten kann …

Ja, ich leiste es mir, mich zu fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Was ist meine Aufgabe in diesem Leben? Die Teilantworten, die in den letzten Wochen dazu bereits auftauchten, sind ein recht buntes Kaleidoskop – darüber habe ich bereits geschrieben. Jetzt haben sich die Farben verändert – vielleicht läuft es auf ein Mosaik heraus, das ich mir aus all meinen Anteilen, Erfahrungen, Erkenntnissen legen werde, um darauf den nächsten Abschnitt meines Lebens zu tanzen.

Jetzt aber liegt der alpine Abschnitt meiner Reise noch vor mir und es gilt, die letzten Tage Revue passieren zu lassen. Wieder und nach wie vor gilt: Rechtschreibung, Textaufbau und Verlinkungen folgen zu einem anderen Zeitpunkt, ich bitte um Nachsicht beim Lesen.

Tag 37: Oberessendorf – Bad Wurzach

Zwischen dem letzten Etappenziel und Ruhetag in Riedlingen und dem heutigen Startpunkt Oberessendorf liegt eine großzügige Tagesetappe, die ich aus ganz praktischen Gründen übersprungen, besser: mit dem Bus „überfahren“ habe. Kann ich ja machen, meine Tour – meine Regeln.

Entferne „Ober“ und „Dorf“, erinnere dich, wo du aufgebrochen bist vor knapp 40 Tagen.

Hier habe ich mich aber tatsächlich selbst ein Stück überfahren, denn genau mit diesen knapp 30 Kilometern habe ich die Schwäbische Alp verlassen und bin im Allgäu gelandet – unaufmerksam einfach vom Bus verschluckt. Und das tut mir leid.

Ich hätte der wunderschönen, rauhen Schwäbischen Alb, die ich für mich völlig neu entdeckt habe, gerne ein paar würdevolle Abschiedsschritte gegönnt, vielleicht sogar ein Tänzchen (schon wieder in diesem Artikel schreibt die Dannheimerin vom Tanzen … was ist denn da los? Ich fahre aber nicht etwa die verlorenen Ansichts-Kilometer wieder zurück, nein, alles auf der Tour gehört zur Medizin.

So darf ich mich damit und mit mir auseinandersetzen, was ich meine, wie und wo zu versäumen, was wann und wie wichtig ist – und nebenbei, ob ich eigentlich noch richtig ticke oder ob mich dieses Natur,- Körper- und Seelen-Wanderding schon weiter aus der Realität gewiegt hat, als mir mit Blick auf meine Rückkehr in die Realität oder den Alltag oder das Ruhrgebiet, lieb sein sollte …

Zerbrechlich – wenn die wilden Naturkräfte wirken

Am Feld entlang sehe ich in der Ferne schon ein großes Gehöft, einen kleinen Weiler und das höchste Scheunengebäude ist zur Hälfte abgedeckt, zusammengestürzt, der Schutt recht ordentlich gehäuft. Schmerzlich sieht es aus. Ich überlege, ob sich der Bau vielleicht nicht zu erhalten lohnt, oder was geschehen ist. Beim Näherkommen erkenne ich, dass auf dem verblieben Dach die Reste einer einst aufwendig aufgestellten Solaranlage stehen.

Im schön und nahrhaft angelegten Bauerngarten davor werkelt der Besitzer, wir kommen ins Gespräch.

Ich liebe diese Zaungespräche: beide wissen, dass man sich auf nichts verpflichtet, einfach nur für den Moment eine Verbindung aufbauen – wir sind soziale Wesen, das wird mir auf dieser Reise ganz besonders bewusst. Ich erfahre, dass es der Sturm vor zwei Wochen war, der hier in 10 Minuten maximaler Wirkstärke, Solardach abgerissen und über die weitläufige Weide verteilt hat.

Wie bedauerlich, dass ausgerechnet der Versuch, nachhaltig und energieeffizient mit Solar-Energie zu arbeiten, um dem Klimawandel ein kleines Stück in Eigenregie entgegenzuwirken, dass ausgerechnet dieser Einsatz von eben den Folgen des Klimawandels fortgerissen wird. Dass die Versicherung alles daran geben wird, nicht für den entstandenen Schaden aufzukommen, versteht sich von selbst.

Ich freue mich über jede der (seltenen) Begegnungen, in denen es nicht zum Klagen und Anklagen und Auswärtsbeschuldigen kommt, sondern jeder dem anderen wohlgesonnen und bei sich bleibt. Dann trennen sich die Wege wieder. Franzi geht dann weiter.

Ich habe mit meinem Nachnamen ja schon so manches schöne Wortspiel gemacht. Es gab die Reihe „Dannheimleuchten“ im Alten Bahnhof in Essen Kettwig. Im Wilhelma Theater in Stuttgart gab es die „Dannheimspiele“ – nun heißt es „franzi geht dann heim“ und natürlich geht es da um Heimat und – und das ist neu: um das klar lokalisierbare Gefühl Heimweh. Ich kann mir in radikaler Ehrlichkeit mir selbst gegenüber sagen, ich habe seit etwa 45 Jahren Heimweh.

Habe vor einiger Zeit einen Artikel zum Thema gelesen und dass es tatsächlich das „Heidi-Syndrom“ genannt wird. Nach der kleinen quirligen Titelheldin aus der Feder von Johanna Spyri, die in meiner Kindheit durch die leicht mangaeske Zeichentrickserie zu größter Bekanntheit kam.

Kurz zusammen gefasst geht es da um ein kleines Mädchen, dass augenscheinlich unter nicht idealen Bedingungen die Kindertage auf einer Alm in den Alpen erlebt und dann aus scheinbar sinnvollen, verantwortungsbewussten Gründen eine vielversprechende in der fernen Stadt und dem dazugehörenden gehobenen Ambiente erleben soll. Und was geschieht? Sie wird krank. Undefinierbar – „Jetzt stell dich mal nicht so an, du hast es doch gut!“ – außen ja, innen: Murenabgänge.

Nennen wir es an dieser Stelle Psychosomatik. Dass der Mensch durch seelische Belastungen krank werden kann, ist allgemein anerkannt. Dass er im Umkehrschluss auch über die Psychosomatik gesunden kann, leuchtet auch ein. Allerdings kann man ein Thema immer nur aus der nächst höheren Perspektive betrachtet erkennen und dann auch lösen. Basis ist der Körper, die Ebenen darüber die Gefühle und Gedanken, darüber wirkt die Seele in ihrenBildern von Märchen, Mythen und Zeremonie und darüber wirken die reinen Kräfte der Energie, des Alleins, der Schöpfungskraft, des Großen Geistes, Gottes oder welche Namen wir dem Namenlosen eben so geben wollen.

Oben im Wald steht die Wallfahrts-Kapelle St. Sebastian, ich wundere mich einmal mehr, mit welcher Inbrunst die grauseligen Pfeil-Durchbohrungen, Fleischwunden und Leidensqual dargestellt wird. Nach heutigem „Überall-sind-Regeln“-Standart, müsste doch am Eingang jeder Kirche eine Triggerwarnung wegen Gewaltdarstellungen stehen!

Überall geschmiedete Pfeile, damit es auch die Letzte versteht, wie der Sebastian zu Tode kam

Wenn ich aber von meinem Intellekthirn Abstand nehme, leuchtet es mir ein, dass es auch hier um archetypische Ur- und Seelenbilder geht, Bilder ohne Worte, quasi erste Comics.

Jetzt sind zum Ausgleich wieder Heidi-würdige Fränzchenfreuden angesagt: ich finde mich im üppigsten Blaubeerwald wieder, den ich in meinem Leben je sah, gehe in die Knie und genieße.

Beim Versuch, dies fotografisch festzuhalten, lege ich mich mitsamt Rucksack hin, um die rechte Perspektive zu finden. Da kommt doch tatsächlich von rechts ein großer stattlicher Feldhase vorbei, ganz nah. Der denkt sich wahrscheinlich: „ah, diese blaue Rucksack-Seekuh kommt so schnell nicht auf die Beine, hier droht keine Gefahr.“

Den blauen Rucksack sieht man auf diesem Bild nicht, den Hasen leider auch nicht.

Ich bleibe mucksmäuschen still liegen, und genieße den Scharwenzel-Hasen-Anblick. Im Augenwinkel erahne ich in wirklich weiter Entfernung ein Wanderpäärchen – der Hase auch, Zack, weg ist er. Ich habe jetzt auch wirklich genug Blaubeeren gevespert, rappele mich recht unelegant auf und ziehe weiter talwärts.

Köstliche kulinarische Wanderung durch den Sommer: Erst Kirsche, dann Himbeere, Mirabelle, Brombeere und jetzt Blaubeere, bin gespannt, was noch kommt.

Beim Abstieg ins märchenhafte Wurzacher Moor höre ich, wie sich ein Radler-Päärchen über das verendete Wildschwein am Wegesrand unterhält. Es ist aber kein Wildschwein, sonder ein ausgewachsener Dachs. Ich kann ihn nicht beerdigen, er ist zu schwer und zu groß – aber ich kann ihm am Wegesrand einen Abschied mit Blumen bereiten, bei dem er bei seinem Namen genannt und entlassen wird. Adieu Dachs, ein kleiner Bär.

Ruhe in Frieden, schönes Tier

Wenn wir uns einer Sache, einem Geschöpf nähern wollen, müssen wir lernen „Die Dinge beim Namen zu nennen“ können.

Das Moor ist dann eine eigene Welt voll Duft und Geheimnisse. Endlich kapiert der Mensch, dass er das Torf nicht einfach so weiter abstechen darf, im Gegenteil, dass gerade das Moor in der Lage ist, besonders große Mengen von CO2 zu binden.

Danach gibt es einen köstlichen Kaiserschmarrn beim Wurzelsepp – ja, Bayern naht. Bad Wurzach selbst ist ein hübscher Ort, die ehemalige Klosteranlage „Maria im Rosengarten“ vorbildlich der weltlichen Nutzung überführt. Überhaupt wirkt hier vieles angenehm aufgeräumt und im besten Sinne selbstzufrieden.

Sehr zufriedenstellend endet der Tag.

Tag 38: Bad Wurzach – Leutkirch

Trotz einer (für meine Verhältnisse) recht langen geplanten Tagesetappe, starte ich mit einer Runde Musik. Packe die Ukulele aus und zupfe mich durch mein kleines Tour-Songbook. Es umfasst wirklich nur die Lieder aus all meinen Lebens- und Wanderetappen, die mir wirklich etwas bedeuten. Ein paar davon sind schon in meiner Social-Media-Rubrik „Lied des Tages“ aufgetaucht.

Hoch konzentriert

Diese Lieder sind nur aus sich selbst heraus für mich und zum Teil von mir. Als würde ich in einem stillen tiefen See baden. Nur, wenn ich ganz ruhig werde, sehe ich, wie sich die Berge und Bäume, die Welt eben, in der Oberfläche spiegelt.

Ein weiteres Phänomen, dem ich mich in der langsamen Ausgiebigkeit meiner Pilgerschaft hingeben kann: Das Schauen. Wie ungewohnt und anstrengend ist es, in der Ferne ein Ziel zu fixieren, beim Laufen den entfernen Baumwipfel stets im Blick zu behalten. Und im nächsten Moment auf das Handy-Display zu gucken, da ich den Abzweig vor lauter Weitblick wohl verpasst habe. Spürbar andere Muskeln kommen hier zum Einsatz. Ich meine nicht die Waden, sondern wirklich die Augenmuskulatur.

Spannend wird es, wenn hier nochmal der stille, klare See ins Spiel kommt. Wenn ich die Kringel auf der Oberfläche fixiere, ist die Augenspannung eine andere, als wenn ich die Steine am Grund mit dem Blick abtaste. Ist die Oberfläche ruhig, sehe ich im Spiegel die Berge und sofort fühlt es sich nach Weitblick an, obwohl die reflektierende Wasseroberfläche doch Nahstrecke ist. Verblüffende optische Täuschung. Mir fällt Physik Klasse 9 ein: Einfallswinkel = Ausfallswinkel. Danke Herr Eberle, endlich weiß ich, wofür das alles gut war.

So ein Putenköpfchen aus Holz hing früher über meinem Kinderbett

Dann führt mich der Weg am Schild „Schwäbische Barockstraße“ vorbei, und der Weg wird wirklich malerisch schön. Auf einer längeren und recht geraden Strecke alsphaltierter Weg und leicht bergauf wage ich ein neues Experiment. Dazu ist es vielleicht sinnvoll zugerechnet, dass ich auf meinen bisherigen Wegen wirklich über weitestgehend alleine unterwegs bin. Das heißt: (fast) kein menschlicher Kontakt über den Tag, meine Komunikation mit Pflanzen, Tieren, Wassern und Steinen wird dafür immer feiner.

Zurück: ich bin also allein auf diesem Weg und beschließe, ihn rückwärts zu begehen. Mein Blick geht nun weit weit ins saftig grüne Tal. Allgäu, du bist arg schön. Am wunderbaren Aussichtsberg Wachbühl mit seiner St Columban & St. Gallusanlage- Kapelle kommt es zum Lied des Tages: Das Heidi-Lied zur vorhin erwähnten Fernsehserie. Dann merke ich, dass rückwärts bergauf gehend ganz andere Beinmuskeln zum Einsatz kommen. Es verunsichert, nicht zu sehen, was kommt, auch wenn ich am Asphalt-Rand gut abschätzen kann, dass ich mich in der Mitte des Weges bewege.

Gerade Strecke – vorwärts, wie rückwärts

Die spannendste Beobachtung ist, dass mir Luft und Laufwind nun nicht um die Nase wehen, sondern dass ich in meinem eigenen Windschatten atme und dadurch differenzierter rieche. Welche Blume, wie feucht ist die Erde, wann wurde der Zaun gestrichen, Hundekacke oder doch Fuchs?

Dann führt der Weg friedlich und umhüllend bewaldet bergab, am Brunnentobel entlang. Vorbei ein einem liebevoll gestalteten Selbstversorger-Garten. Der Hund bellt sich hinter seinem Zaun einen Wolf. Es ist wohl mein Hut und mein Stab,der viele Hunde ausrasten lässt. Darauf erscheint die Gartenbesitzerin und ist wirklich eine erfrischende Erscheinung, leicht und heiter albern wir über meine Unverschämtheit von Hut und Stab. Kleine leuchtende Begegnungen, die den Tag und die Seele erhellen.

So komme ich mit blendender Wanderlaune und einem überraschend starken Sonnenbrand schließlich in Leutkirch an. Wieder soweit schöner unaufgeregter Ort. Ich lande zum Abend noch im Naturbad und teile mir den Uferzugang mit Familie Schwan. Wirklich entzückend, wie die drei grauen Schwanenkinder unbeholfen an Land pummeln, um dann die eleganten Putzbewegungen der Eltern versuchen nachzumachen.

Danach sichtlich erschöpft, wird geschlafen, wie Schwäne eben so schlafen: Schnabel unter den Flügel, nur dass diese Stummelflügelchen noch viel zu klein sind, als dass da der Schnabel bedeckt wäre, er schaut einfach wieder raus, der Schwanenkinderkopf, egal. Augen zu und poof. Die Energie folgt der Absicht. Danke, kleiner Schwanensee.

Erfrischendes Bad und angenehme Entspannung für alle

Zum Abendessen geht es in den Dorfgasthof „Mohren“ und ich denke daran, dass in vielen Ortschaften derzeit mehr oder weniger darum gekämpft wird, ob diese Gasthöfe, häufig mit einer Gestalt wie früher bei Sarotti geschmückt, ihren Namen behalten sollen.

Hier bekomme ich heute Abend noch eine ganz andere Studie, zum Thema eigene Vorurteils-Behaftung. Am Nachbartisch sitzt ein Paar. Ich glaube, die beiden kennen sich noch nicht so gut, scheinen irgendwie auch aus zwei verschiedenen Welten zusammengewürfelt worden zu sein. Mein erster ungefilterter Impuls: Typische Sugardaddy Kombination. Er: beruflich erfolgreich, wohlhabend, aber emotional und/oder sexuell unausgelastet. Sie: frisch und auf bezahltes Abenteuer aus.

Dannheim! Was fällt dir ein! Aber ich kann nicht anders, muss weiter möglichst unauffällig beobachten. Sie sieht wirklich „appetitlich“ aus, wilde Locken, volle Lippen (ob nachgeholfen, kann mir ja so was von egal sein!) Sie trägt ein elfenbeinfarbenes Kurzes Trägerkleidchen mit topmodischem Cutout, also ovalem Ausschnitt unterhalb der Brust und über dem Nabel. Solarplexus-Schau, hab ich auch noch nie gesehen. Die Käsespäztle werden einhändig und etwas lustlos zerstochen, da sie in der anderen Hand das Handy bedient. Er schaut viel und recht leer in die Gegend. Zusammenfassung: sieht lecker aus, fühlt sich aber irgendwie vergeblich an.

Jetzt wird es am anderen Nachbartisch lebhaft. Zwei Männer und eine Frau nehmen Platz. Alle drei in Heavy-schwarz. Der Vorurteils-Franz sagt: Ah, Motorradrocker. Auf ihren T-Shirts sind bluttriefende Horrorfratzen unterschiedliches Art, wirklich grauslich. Mir fallen die Märthyrer-Darstellungen in der Kirche wieder ein, und frage mich gerade, wo da die Schnittstelle zum Death-Metal seinkönnte, da wird nebenan fröhlich Bier bestellt, Bügel-Verschlüsse ordentlich zum Ploppen gebracht. Alle drei kichern und plaudern fröhlich. Zusammenfassung: sieht furchteinflößend aus, birgt aber ansteckende Lebensfreude.

Schöne Lehrstunde in Sachen Äußerlichkeit versus Innere Wahrheit in schöner Landschaft. Danke

Tag 39: Irgendwo im verregneten Allgäu – Riedholz

Die Wolken hängen heute bis auf die Maisfelder runter. Selbst im Allgäu ist es heute trüb – und bei mir auch. Ein paar berufsbegleitende E-Mail wollen beantwortet werden, dazu muss ich selbst erst mal die Antworten für mich finden.

Es regnet, es regnet … und hört heut nimmer auf

Heute wäre der krönende Abschluss des Schwäbischen Wanderweges Nummer 5 angestanden: Recht anspruchsvoll wäre es zum höchsten Berg von Baden Württemberg gegangen, zum Schwarzen Grat. Aber bei Regen ist es mir heute überhaupt nicht nach anspruchsvollen äußeren Wegen. Ich verzichte freiwillig.

Meine Tour – meine Regeln. Außerdem habe ich mit dem Maximiliasweg noch genügend Bergansichten vor mir, von Westen nach Osten die Alpenkette entlang. Ich bleibe heute also gern im Tal und lege die Etappe mit dem Bus zurück.

Es ist schön, dass Felix in diesen letzten zehn Tagen Zeit hatte, meine Tour mit dem Wohnmobil zu begleiten, mir zum Abend hin also immer wieder Station zu machen. Und so ist er es, der für den letzten gemeinsamen Abend, bevor es für ihn wieder nordwärts geht, also fährt, einen besonders schönen Übernachtungs-Platz wählt:

Der Argentobel bei Riedholz – eine Reise wert

Riedholz, am Argentobel, genannt Eistobel, weil es in dieser wilden, tiefen Schlucht im Winter zu ganz besonderen Eisformationen kommt. Beim Schreiben dieses Wortes „Eisformation“ assoziiere ich zum Wort Konfirmation, also zur erneuten eigenständigen Bestätigung, und das wird es hier an diesem Ort für mich.

Zum kleinen Abendspaziergang, bei sehr kurzeitig schönem Wetter, steige ich steil die Schlucht hinunter und bin fasziniert von dieser besonderen Gesteinsart, die sie – völlig nachvollziehbar – Herrgotts-Beton nennen.

In Anlehnung an den heutigen Vollmond kommt es spontan wieder zum Lied des Tages: Moon River. Ach Audrey, du wundervolle einzigartige Holly Golightly, es ist mir eine Ehre, dein Lied in mein Repertoire aufzunehmen – mit Ukulele versteht sich.

Herrgottsbeton heißt dieses Gestein im Umgangston, zurecht

Hier unten fällt mir schlagartig ein, dass ich 2018 genau hier im Allgäu meinen Abschluss in der Weiterbildung „Europäische Ethnomedizin“ gemacht habe und eine Exkursion mit Bärbel Bentele in diesem Eistobel erleben durfte. Eine nachhaltig prägende Begegnung, die ich am kommenden Tag tiefer durchdenken werde. Außerdem startete ich 2018 hier meine „franzalpina“, meine Alpenüberquerung auf dem E5, dem Europäischen Fernwanderweg Nr.5, von hier aus, über die Nagelfluh und weiter bis nach Verona.  Facebook erinnert mich gerade fast täglich mit Bildereindrücken.

So gerne lass ich mich an diese Tour erinnern

Auch aus meinem Vornamen lassen sich Programm- , oder Touren-Titel erfinden – quod erst demonstrandum, wie wir Lateiner sagen – und ich hatte in Latein eine 5, keine E5.

Langstrecke, das ist genau mein Ding, auch wenn ich im profanen Alltags-Leben oft ungeduldig, vielleicht sogar unstet bin.

Für heute bin ich froh, mit und Dank Felix an diesem Ort gelandet zu sein. Ein Teller Nudeln, ein Glas Rotwein und der Vollmond geht über dem Bergrücken auf. Die Nacht ist sternklar. Schnitter- Vollmond. Jetzt geht es also daran, die ersten Ernte-Schnitte zu setzen. Habe ich das Richtige gesät. Habe ich es recht gehegt? Werde ich genug für den Winter haben? Das wären jetzt die Fragen der sesshaften Ackerbaubevölkerung. Ich drifte ja immer weiter ins Nomadengefühl, was nicht nur Ruhe und Zufriedenheit in mir auslöst.

Schnittermond mit Spiegelung im Wohnmobilfenster. Einfallswinkel gleich … gute Nacht Herr Eberle

Den Anblick des Vollmondes genieße ich bis zum leeren Glas, also den letzten Tropfen vollmundigen Rotweins und dann Gute Nacht.

Tag 40: Riedholz – Oberstaufen

Nach einem erdbeerroten Sonnenaufgang zieht der Himmel wieder flink zu. Es ist viel Regen für heute angesagt, na Bravo!

Noch strahlt sie gülden vom Horizont, die Liebe Sonne

Mir wird es etwas unrund, weil es jetzt daran geht, wirklich klug zu entscheiden, was wirklich für den letzten und körperlich anspruchsvollsten Abschnitt in den Rucksack soll und darf. Schlafsack oder nur Hüttenschlafsack? Wanderstab oder Bergstöcke? Regencape oder Jacke?

Irgendwann ist alles genug durchdacht, der Rucksack gepackt, das Frückstück verputzt, Vesper gerichtet und der letzte Schluck Kaffee getrunken, dann heißt es: Aufbruch!

Mit Stab, Regenjacken und Cape, dafür ohne Schlafsack aber mit Ukulele. In den letzten Tagen hat mir das leise Fürmichspielen neben dem unbelauschten Singen in jeder Kapelle und Kirche am Wegesrand wirklich viel Freude gemacht.

So kraxle ich am frühen Vormittag bei ordentlich Wasser von oben erneut zum Wasser hinunter. Diese dramatische Wucht des Eistobels zieht mich sofort wieder in seinen Bann. Egal ob es regnet, ein Traum. Mehrere Kilometer führt dieser Weg durch die Schlucht, vorbei bizarren Formationen aus Herrgottsbeton, wirklich unbedingt eine Reise wert.

Alles gut verpackt und unter gewaltigem Herrgottsbeton-Dach

Mir gehen hier unten nun die verschiedenen Schritte meines Medizin-Weges durch den Kopf. entdecke blühende Sanikel am Wegrand und denke gleich wieder an Bärbel Bentele, die mich 2018 eben besonders auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat. Das Sanikel, scheinbar unscheinbar, zeigt sich dem, der es braucht, danke. Und ich will noch weiter zurück gehen im Geiste und meinen Weg genauer betrachten und meine Dozenten und Lehrerinnen hier würdigen:

Nach meiner Großmutter, der ich die ersten Lektionen in Kräuterkunde verdanke, ist es Ursel Stratmann, mit der ich im Ruhrgebiet die ersten Kräuterexkursionen unternommen habe. Durch sie kam ich auf Wolf-Dieter Storl, bei dem ich viele Seminare, Exkursionen und Vorträge – unter anderem hier in Isny und Stiefenhofen – besucht habe. Weiter führte mich der Weg zu Phytaro nach Dortmund. Pit und Gudrun German bieten ein besonderes Angebot an alternativ-medizinischen Ausbildungen und Seminaren an. Hier begegnete ich der Xenia Fitzner, unter deren Fittiche ich in die Heimische Ethnomedizin näher kennen lerne durfte, danach noch der Aufbau „Psychotechniken Heimischen Ethnomedizin“. Unbedingt prägend war und ist für mich die Arbeitnmit Iris Wangermann, die mich mit ihrem damaligen Schwerpunkten  „Transgenerationelles Trauma“ und „Naturbasierte Prozessarbeit“ sehr geprägt hat. Und zu meinem bisherig letzten Abschluss kam es in diesem Frühjahr mit der „Energiemedizin“, einer Ausbildung über die Four Winds und Alberto Villoldo.

All diese wunderbaren Mosaiksteine meines Weges habe ich mir während der Schluchtpassage und bei Regennässe bis auf die Haut und darunter zergehen lassen und steige „frohgemut-steht ihr gut“ wieder in die „Oberwelt“ hinauf. Da hört es auch schon fast auf, zu regnen.

Meine Komoot-App hat sich in der absoluten Netzfreiheit da unten wohl anständig verschluckt, das merke ich aber erst, als ich doch ein gutes Stück falsch gelaufen bin – selber Schuld, Dannheim. Orientierung ist ein vielschichtiges Thema und denke mal wieder recht frei an meinen Lieblingssatz aus dem Buch Nachtzug nach Lissabon: „Es hängt von so vielem ab, wie gut wir sehen“ … egal ob weit oder nah, über oder unter Wasseroberfläche.

Hier lässt es sich leicht glauben, niemals aus Eden vertrieben worden zu sein

Das Thema Wasser von oben ist für heute jedenfalls passé. Die Sonne kommt sogar raus und beschenkt mich bis zum Nachmittag mit einem landschaftlich ausgesprochen reizvollen Gang, erneut am Verlauf des Tobels nach Oberstaufen, bilderbuchschön! Sogar ein Stück Jakobsweg mit Stempel in der Zeller Kapelle ist mir vergönnt. Noch 5 kleine Felder sind in meinem Ausweis frei, dann ist er voll, bunt und toll!

Ehrlich erschöpft lande ich in meiner Pension „Haus Daheim“. Es versteht sich doch sicher von selbst, dass ich die Unterkunft hier nur dem Namen nach ausgewählt habe.

Zu Gast im Hause Da(nun)heim

Das Konstrukt ist ganz lustig. Früher war das wohl ein eigenständiges Haus, das – siehe Hausansicht – Schrotkuren verabreicht hat. War das in den 80er Jahren, als diese Therapiemode aufkam? Wie dem auch sei, irgendwann hatte es sich im Haus Daheim ausgeschrotet, und seither gehört der Betrieb quasi als Außenstelle zum Hotel Adler.

Der Blick aus meinem Fenster ist wirklich formidabel, ich überlege sogar kurz, ob ich morgen – an meinem freien Tag – die Gästekarte für Schwimmbadbesuch und oder Seilbahnfahrt benutzen sollte.

Dann beschließe ich den Tag in einem netten italienischen Lokal und bekomme wegen des vollen Betriebs sogar noch einen Tischnachbarn. Wieder so ein unverhofftes, ungeplantes Gespräch, diesmal mit einem Motorradfahrer, der die letzten Tage zwischen Südtirol und Allgäu dem Regen davongeflitzt ist. Wer von uns beiden hier warum alleine sitzt, woher und wohin, und dann trennen sich die Wege wieder.

Tag 41: Pausentag in Oberstaufen

Wie eingangs in der Einleitung schon erwähnt, oder sagen wir es musikalisch: angespielt, stehen heute ein paar Sinnfragen an. Die lassen sich über den Tag auch nicht so richtig aufheitern, obwohl der Himmel trockenb leibt. Dafür soll es dann ab morgen, wenn es für mich wieder weitergeht, für drei Tage nochmals richtig schäbig werden.

Das innere Fräulein Marzipan muckt auf und fragt, ob wir morgen nicht einfach direkt in den Zug an den Schliersee steigen können. Aber die Franzi zollt ihrem Tournamen dann ein wenig trotzig Tribut und bucht alle kommenden Etappenübernachtungen fix und fertig. Jawoll, da muss es jetzt durch, das Fräulein Marzipan.

Priorotät und Position, das war das Thema im letzten oder vorletzten Artikel. Heute ist der bestimmende Unterton – und da bleiben wir gern musikalisch – die parallele Molltonart auszuhalten, in der tiefen Gewissheit, dass schon bald das strahlende Dur wieder ertönt.

So gibt es als Soforthilfemaßnahme am Mittag einen sehr guten Cappuccino im Blauen Haus nebenan und die beiden Kellner geben sich arg große Mühe, charmante Italienitá zu verbreiten, trotzdem schön.

Einfach schön hier

Danach wird wieder geschrieben und der Tag vergeht denn auch recht unspektakulär und vor allem OHNE Schwimmbadbesuch oder Seilbahngondelei. Ich bin ja aber auch nicht zum Spass hier im schönen Oberstaufen, vor allem nicht zum Urlaub. Ich pausiere hier auf meiner Pilgerreise – und alles, wirklich alles gehört zur Medizin, gell?

Nahezu von Medizinalwirkung sind denn am Abend im Gasthof Adler die Maultaschen mit dem Glas „Haberschlachter Heuchelberg“ – ich musste ein paar mal üben, bevor ich die Bestellung dieses köstlichen Württemberger Rotweins stotterfrei aufgeben konnte, VOR dem alkoholischen Genuss, wohlgemerkt.

 

Da freit sich‘s Schwobamädle

Gerade habe ich die guten Leder-Stiefel für morgen präpariert, soll heißen, eine Extra-Ladung Wachs eingerieben. Wenn ich es recht bedenke, habe meine Steifel in den letzten Wochen mehr kosmetische Zuwendung erfahren, als mein Gesicht. Ich sag doch: Priorität und Position …

Regen, du kannst uns Dreien nichts anhaben

Rückblickend kann ich sagen, besser schreiben: Ein sehr guter Tag, denn alles, wirklich alles gehört zur Medizin.

Wohl an denn, morgen beginnen die letzten 11 Tagesetappen plus zwei Pausentage, da will die Dannheimerin fein ausgeschlafen sein.

Gut‘s Nächtle – a ledsch Mol uff schwäbisch, ab morga goht‘s nach Bavaria!

 

 

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