05 Jul franzi geht dann heim – Zwischenblick II
Nun bin ich schon gut über eine Woche unterwegs. Jeden Morgen versuche ich, den vergangen Tag, die vergangenen Orte und Begegnungen in meinem Gedächtnis wach zurufen. Zu schön ist diese Wanderung, diese Pilgerreise, als dass ich auch nur einen Abschnitt missen möchte.
Also schreibe ich, um dem Vergessen entgegenzuwirken. Außerdem teile ich es mit denen, die es lesen wollen. Ich bin ehrlich gerührt über die Rückmeldungen. So viele Erinnerungen, die mein beschriebener Weg bei den Lesenden wachruft und die mein Betrachten dann erweitern, Danke.
Auch hier gilt nun: Rechtschreibung, Schriftsatz und Verlinkung folgt zu einem späteren Zeitpunkt.
Tag 7: Altenberg – Köln
Der Ruhetag in Altenberg hat wahre Wunder vollbracht. Hier zeichnet sich meine eigene Erschöpfungsgeschichte ab: am sechsten Tage sollst du ruhen … Außerdem habe ich erfahren, dass die Tiroler Berglegionistinnen sogar schon am fünften Tag die Pause einlegen. Also bin ich mit meinem Sechstage-Rhythmus recht weit vorne.
Mein Rucksack ist erleichtert, ich bin es auch. Und ich will zu meinen guten altbewährten Lederstiefeln zurück, werde mir in Köln neue kaufen, jawoll. Die gut eingelaufenen Goretex-Stiefel sind einfach nichts für mich, da verkochen mir ab 28 Grad Außentemperatur regelrecht die armen Füßchen.
Auch das gehört wohl zu den Prozessen, zur Prozession: zu erkennen, was ich wirklich brauche, auf meine innere Stimme hören und mich um meine Bedürfnisse angemessen kümmern. Frei nach Puma Quispe Singona: „Höre auf dich – zuerst und zuletzt.“
Nach einem „Pilgerin Dannheim“ beschilderten Frühstück verlasse ich diesen wunderschönen Ort Altenberg und jetzt erst fallen mir die prächtigen Winterlinden auf, die hier noch in voller Blüte stehen. Ein fast narkotisierender Duft. Ich binde eine Handvoll Blüten an meinen Stab und werde von diesem Linden-Sanftmut begleitet, eingehüllt.
Beschwingt geht es gen Odenthal. Hier haben sie sich der Hexen-Thematik gesondert angenommen, das ist löblich. Man kann sogar auf einem Hexen-Wanderweg spazieren. Ich frage mich nur, warum diese Hexendarstellungen immer alte hakennasige Hutzelweiber sein müssen und erinnere mich daran, dass mich mein Großvater – nicht der, dessen Hut ich trage, sondern der andere – immer „alte Wetterhex“ nannte, wenn meine Zöpfe nicht ordentlich geflochten waren.
Ich sitze eine Weile am Hexenbrunnen hinter der Kirche. Die vom Künstler vor ein paar Jahren geschaffene Skulptur stellt einen Kessel dar, der von fünf jaguarähnlichen Tieren getragen wird und aus dem das Wasser brodelt, quillt.
Hier fließen auch meine Assoziationsketten: Der Kessel der Wandlung, getragen vom Jaguar, dem geräuschlosen Jäger im tiefen Urwald, der keine Feinde hat, weder in dieser, noch in der anderen Welt. Ja, auch in unseren südlichen Gegenden gab es in grauer Vorzeit Panther. Fühle mich diesem Tier und seinem Geist sehr verbunden, schon auch, weil mein allererstes Stofftier ein schwarzen Panter war – und ist, ich habe ihn immer noch. Danke Eltern, dass ihr mir so früh ein so starkes Krafttier an die Seite gegeben habt.
Drei mal schwarzer Kater … Mit diesen Gedanken, und weiter auffallend oft unter Linden trägt es mich nach Schildgen. Hier findet in der Herz Jesu Kirche gerade ein Trauergottesdienst statt. Die Gemeinde singt gerade den Irischen Reisesegen, mit dem auch ich am 24.6. auf meine Pilgerreise verabschiedet wurde.
Wir sind alle Reisende, in dieser und in der anderen Welt. Und manchmal sind diese beiden Welten gar nicht so weit voneinander entfernt.
Die Kirche selbst wurde vom selben Architekten wie der Nevigeser Dom entworfen: Gottfried Böhm hat auch hier Sichtbeton auf verblüffend angenehme Weise „verbaut“. Es soll das Himmlische Jerusalem versinnbildlichen.
Böhm hat des Weiteren auch die Zentralmoschee in Köln entworfen, da kommt mir in den Sinn, dass dies doch schöne Zeichen der Verbindung sind. Hier ist es ein Architekt, der durch seinen Eindruck und seine einheitlichen Ausdruck diesen drei abrahamitischen Religionen ein Zuhause schafft. Verbindungen schaffen – das wird ein Thema für die kommenden Etappen.
Weiter geht es nach Köln und mein kindliches Gemüt freut sich riesig über die Möglichkeit, mit der Seilbahn über die Zoobrücke einzugondeln.
Im Dom bewundere ich bei perfektem Lichteinfall das Gerhard Richter Fenster. Wahrscheinlich ist es erneut mein kindliches vergondeltes Gemüt, das darin die bunten Karos vom Elefanten Elmar aus dem gleichnamigen Kinderbuch erkennt.
Ganz profan gibt es im Anschluss die neuen Lederstiefel.
Bei Globetrotter kompetent und engagiert beraten, wird es ein Hanwag-Schuh aus Yakleder, innen auch Leder. Fühlt sich gleich an, als würden meine Füßchen in zwei Kuschelschlafsäcken stecken.
Herrlich, so soll es sein.
Tag 8: Köln – Wesseling
Meine Etappe beginnt mit einem kleinen Streifzug durch die Kölner Flora, die will ich mir nicht entgehen lassen. Es nieselt und mein Regencape kommt zum Einsatz, die neuen Stiefel laufen quasi von selbst.
Dann geht es am Rheinufer stadtauswärts entlang. Nieselregen wird mein ständiger Begleiter des Tages sein. So passiere ich unpittoreske Vorstadtbezirke, komme durch ein riesiges Gelände der Diakonie, eine richtige Diakonie-Kolonie, die in ihrer vermeintlichen Abgeschlossenheit ein wenig gespenstisch wirkt.
Unweigerlich muss ich an ein Erlebniss vor vielen, vielen Jahren denken, als wir mit meinem damaligen Tangoquintett „Primavera del Tango“ in Wien im Theater an der Baumgartnerhöhe gastiert haben und ich nach dem Soundcheck von zwei Bewohnerinnen diese Heilanstalt über deren Sangesliebe informiert wurde und mit einer einzigartigen Carmen-Habanera von eben dieser überzeugt wurde. Herrlich, was das Leben einem so für Begegnungen zuspielt, und verblüffend, wann die Erinnerung diese wieder an die Oberfläche des Bewusstseins holt.
Weiter geht es auf dem Leinpfad unter überwältigend riesigen Pappeln. Gestern Winterlinde, heute Pappel … meine Aufmerksamkeit richtet sich mehr und mehr auf die Pflanzen, und jeden Tag habe ich drei bis vier Hauptbegleiter. Meine Wahrnehmung wird feiner, ich kann schon von weitem die unterschiedlichen Pflanzendüfte erkennen und zuordnen. Immer schwerer vertrage ich hingegen starke Menschenparfums.
Der Feld-Wald-und-Wiesen-Franz fragt sich also gerade, was ihm diese enormen Pappeln am Rheinufer sagen wollen und versinkt in Erinnerungen an entscheidende Stationen des eigenen Lebens, die erstaunlicher Weise immer von Pappeln „bestanden“ wurden, da plötzlich –
Zack! Laufe ich mitten hinein ins grausame Industriegebiet von Wesseling! Echt ein Schock für meine offene Pflanzenseele. Und es kommt mir vor wie böser Hohn, wenn sie an die Steinmauer, hinter der sich Tonnen von Metallschrott befinden, ein Schild montieren, dass dies hier eine biologische Heimat für die Eidechsen sei.
Unendlich viele Schlote aus denen Feuerstöße entweichen oder faulig stinkendes Gas pupst. Menschengemachtes Totland.
Wer da glaubt, der Jakobsweg führt den Pilger um die Schönheit der Schöpfung zu lobpreisen, wird hier eines anderen belehrt. Auch das ist unsere Welt, geformt von einer Spezies, die sich selbstherrlich als Krone eben jener nennt. Ich schäme mich.
Am Gatter wachsen unverdrossen saftige Brombeeren, und auch wenn ich weiß, dass man in der Nähe dieser Xyladekor-durchtränkten Schienen-Bohlen eigentlich nichts Gutes findet, genieße ich ein paar dieser Beeren als Geschenk von Mutter Natur, die mich auch und gerade an diesem Ort daran erinnern, worum es für mich geht: Natur – Schutz und Ehre. Ich greife die Halskette mit dem Franziskus-Kreuz, die mir Bruder Dirk in Beyenburg mit auf den Weg gegeben hat, denke an meinen Namenspatron und philosophiere im Stillen über „homo sapiens“ und „homo stupidens“.
Wesseling hat aber auch angenehme Seiten und hübsch beschirmte Straßenzeilen zu bieten. Siehe Titelfoto. So findet hier genau heute das große Stadtfest mit Openair, Kunstmarkt an den Rheinwiesen und gigantischem Feuerwerk in der Nacht statt – das erlebe ich aber nur noch sehr entfernt, bin zu dem Zeitpunkt schon tief in Morpheus Arme gesunken.
Tag 9: Wesseling – Bonn-Venusberg
Ich beginne diesen Sonntag mit einem Gottesdienstbesuch in der Germanus-Kirche. Bin wieder erstaunt, soviel ehrlich Sinnstiftendes und Tröstliches in der Predigt zu erfahren. Vielleicht ist dieser Weg auch ein großer Versöhnungsgang für mich, meine erlernte Religiosität und meine empfundene Spiritualität.
Weiter geht es heute durchaus heiter am Rhein entlang, ab nach Bonn.
Also wieder in die Stadt, aber diese zeigt sich angenehm und beschaulich. Natürlich statte ich Herrn Beethoven, also seiner imposanten Statue einen Besuch ab um danach im stillen und kühlen Kreuzgang des Münstern zu verweilen.
Es wird mir zur lieben Gewohnheit, in den Gotteshäusern, so niemand da ist, den ich stören könnte, zu singen. Und es kommen da von ganz allein irgendwo aus den Tiefen meiner Sängerseele immer die selben Lieder hervor – vielleicht wird das mein persönlicher Soundtrack zur Tour.
Am prächtigen Poppelsdorfer Schloss geht es für mich entlang. Stop an der Eisdiele, das Salzkaramelleis schmeckt großartig. Ich habe es noch nicht fertig geschleckt, da führt mich das Muschel-Schild ganz unscheinbar zwischen zwei Häusern hindurch – Zack! In den Wald. Wunderbare Überraschung!
Ich genieße es sehr, dass der Weg fast durchgehend so gute mit den kleinen Quadratschildern mit gelber Muschel auf blauem Grund markiert sind, dass nur selten ein Kontrollblick in die Karte nötig ist. Wandern nach Muscheln ist ein bisschen wie Malen nach Zahlen, sehr beruhigend.
Spontan ändere ich zum späten Nachmittag noch meine Nachtquartierspläne. „Waldhäuschen“ klingt vielversprechend. Im Zimmer mit Dusche und Bad auf dem Flur und dem entzückenden Waldvogelgesang vom Mansardenfenster her, fühle ich mich glatt an den Schliersee erinnert. Greife also in meinen Reiseassoziationen immer mal wieder ein Stück voraus und dann webe ich auch mal wieder ein paar Meter zurück.
Das Bild vom Wege-Weben und Verbindungen-Gehen nimmt vor meinem inneren Augenimmer klarere Gestalt an. Mein Weg für mich von A nach B. Das Wichtige sind aber weder A noch B, sondern das NACH. Das ist die Verbindung. Und wenn ich hier lauter Verbindungen eingehe, bin ich selbst vielleicht irgendwann der Wald und der Berg und der See und umgekehrt.
Zum genussvollen Abschluss des Tages im Waldhäuschen-eigenen Biergarten und trinke ein Andechser – Zack! schon wieder in Bayern.
Am Nachbartisch plaudert eine Altherrengesellschaft quer durch alle gesellschaftsrelevanten Themen. Ich will wirklich nicht lauschen aber folgende aufgeschnappte Wortwechsel wird in mein Goldkästchen der Meistergedanken aufgenommen:
“Weeste, allet in der Natur ist ja für irjend wat jood. Sojar de, saren wa ma, de Distel.“ „Sischa datt. För de Distillerie! Machste ma noch drei Schnäpse fertisch, Chef?“
Bald liege ich in meinem Dachstübchen, da fährt doch glatt noch der Schrotthändler mit seinem Blech-Geflöte durch die Gassen, hält mal hier, mal da. Nicht zu fassen, wie sie in dieser Stadt ihren bekanntesten Musikus postmortal ausbeuten: der Schrotthändler flötet „Für Elise“.
Na dann, gute Nacht. Klappt aber garnicht so schnell mit der guten Nacht, denn die Frau im Nebenzimmer muss noch bis nach Mitternacht mit ihrem Partner am Telefon streiten. Ich bin ehrlich zu müde, um um Rücksicht und Hörschutz zu bitten, aber leider nicht müde genug, um darüber hinweg zu schlafen.
Tag 10: Bonn-Venusberg – Oberwinter
Aufbruch am Morgen auf nüchternen Magen. Frühstück gibt es drei Ecken weiter im orange gestrichenen, flachen Rundbau, vielleicht mal eine Tankstelle gewesen? Und dieses Frühstück lässt mein Seelenbarometer gleich wieder in sonnige Höhen schnellen. Auch hier lächelt einen der Ludwig von der Backwarentüte an, es gibt ein Entkommen – Ta-Ta-Ta-Taaaaaah!
Quer durchs große Klinikgelände geht es mal wieder Zack! Am Mäuerchen links direkt in den Wald. Die gelbe Muschel auf blauem Grund führt mich alsbald zu einem formidablen Ausblick auf das Siebengebirge – zwischen uns der Rhein.
Dieser langsam aber stete Wandel der Landschaft ist so reizvoll. Ich komme in einen Wald, voller riesiger Hainbuchen, wie ich sie noch nicht gesehen habe. In Richtung Bad Godesberg gehend kommt mir eine Meditation über Glaube, Liebe und Hoffnung in den Sinn. Ich wandele den Dreiklang um in: „Glaube, Liebe, Zuversicht“, da mit das Aktive an der Zuversicht gerade näher ist – liegt, vielleicht auch am oder im Gehen.
Später geht es am Godesbach entlang. Richtig, der Bach, der dem Ort den Namen gab, samt der Quelle, die ihm das „Bad“ davor bescherte. Ich bin irritiert, dass sie eben diesen Brunnen heute unter Betonverschluss der Öffentlichkeit vorenthalten (in Bad Cannstatt sind viele der Quellen öffentliche Brunnen). Statt dessen haben sie einen schicken Kiosk hingestellt, die gewitzten Kaufleute, um das Wasser nun frisch gezapft für ordentlich Geld zu verhökern.
Ich muss an Nestlé denken, und die Frage, wem warum welche Natur-und Bodenschätze gehören, und wer sich erlaubt damit Reibach zu machen. Homo sapiens … Homo geldgierens
Weiter geht es über ländliche Höhen mit Kuhweiden und langen Feldern mit Johannisbeeren, die in der Sonne wirklich feurig strahlen. Wunderbar.
Und ich klaue nicht eine Rispe! Zum einen, weil ich „rote Träuble“ nicht so mag, und zum anderen, weil hier viele wilde Kirschbäume die Felder säumen, und die schmecken köstlich! „Le temps des cérises et des roses“, danke Carla Bruni!
Dazu fällt mir die Legende vom Heiligen Johannes ein, laut der er mit einem Pilgerstab aus einem Weinstock geschnitten übers Land ging. Irgendwann auf die Kraft seiner Mission und seines Glaubens befragt, steckte er den Stab in die Erde und dieser erblühte in frischem Grün und trug fortan Johannisbeeren. Ob mein Stab, so ich ihn in die Erde steckte, ebenfalls wieder grünte? Welche Kirsche trüge er wohl?
Hier stelle ich fest, dass sich meine ursprüngliche Idee vom „Musizieren auf Reisen“ steil verändert hat. Ich habe überhaupt kein Bedürfnis für irgend einen anderen Menschen hier Musik zu machen. Ich singe liebend gern allein in jeder Kapelle am Wegesrand und höre mich immer wieder ein paar auserwählte Lieder aus meinem höchst eigenen Lieblingsrepertoire singen, summen. Vielleicht schält sich hier so langsam meine musisch-musikalische Authentizität heraus? Wir werden sehen, besser: lauschen.
Bei diesem Gedanken passiere ich die erste Bundesländergrenze: Au revoir Nordrhein-Westfalen. Sei gegrüßt Rheinland-Pfalz!
Der Weg führt mich vorbei am Rolandsbogen direkt zum Ferdinand Freiligrath-Denkmal, der mit seinem Spendenaufruf einstens dafür sorgte, dass der eingestürzte Bogen, Überbleibsel einer früheren Burg und längst berühmte Landmarke, wieder aufgebaut wurde.
Nach diesem romantischen und rebellischen Dichter wurde auch die Straße benannt, in der ich während meiner Schulzeit wohnte. Fühlte mich ihm früh verbunden, nicht nur, weil direkt um die Ecke im Park das „Freiligrath-Bänkchen“ zum feinen Päuschen einlud. Der bekannte Ruf „Wir sind das Volk“ stammt aus deinem Gedicht „Trotz alledem“, aber das nur am Rande.
Am Rhein entlang geht es für mich nun Richtung Oberwinter, wobei sich meine Wanderapp spontan überlegt, mich landschaftlich anspruchsvoller zum Ende dieser heute letztendlich 29 km langen Tagesetappe noch über einen Berg zu schicken. Kurz aber sehr knackig und arg steil hoch und dann aber auch ebenso steil hinunter.
Schöne Bescherung an einem Tag, an dem mich der Wunsch, möglichst frei von Tag zu Tag zu entscheiden, wie weit ich will komme und will, teuer zu stehen kommt. Sowohl kilometertechnisch als auch monitär. Alle naheliegenden Unterkünfte sind nämlich ausgebucht, also geht es heute für mich ein ein richtiges Hotel. Günstigste Kategorie immer noch doppelt so hoch, wie mein sonstiger Schnitt. Und da erwarte ich dann auch ein bisschen Luxus.
Weit gefehlt, zumindest was das Zimmer betrifft. Klein, dunkel, Erdgeschoss hintenraus auf den Parkplatz, Blick auf Kühlerhauben und unter mir braust die Heizungsabluft vom Schwimmbad. Über die Sauberkeit möchte ich an dieser Stelle nicht reden. Gehe zurück an die Rezeption und möchte meine Mängelliste angeben. Als ich bei der Badbeschreibung bin und erwähne, dass es ja ein behindertengerechtes Bad ist (der Begriff ist von mir sicher völlig falsch gewählt, ich bitte um Verzeihung), unterbricht mich die Rezeptionistin entschuldigend, sie hätten halt oft Gäste im Rollstuhl … Bitte? Das ist nicht das Thema, antworte ich irritiert, sondern der Kotstreifen auf dem Duschvorhang …
All das ist vergessen und nichtig, als ich am späten Abend, nach einem wirklich guten Büffet-Abendessen auf der Terrasse sitze und hier vom schönsten und erhebendsten Logenplatz aus den Vollmond aufgehen sehen darf. Danke.
Tag 11: Oberwinter – Remagen
Dieses Hotel kommt mir vor, wie ein Relikt aus längst vergangenen 80er Jahren. Sowohl, was die Ausstattung und Einrichtung betrifft, aber auch das Publikum, diese gehobene Mittelklasse, die irgendwann die luxuriöse Naherholung für sich entdeckte.
Wie sonst in den Skihotels, steht doch tatsächlich auch im Frühstücksraum eine Glasvitrine mit scheußlichem aber hochpreisigem Schmuck. Damenschmuck. Ich schaue mich um und frage mich, welche der Damen hier wohl kurzerhand sagt: „Ach Karl, nehme ich jetzt noch ein Croissant oder doch lieber ein Collier?“ Homo schmuckiens …
Ich habe mich schon länger nicht mehr so als Mensch dritter Klasse gefühlt wie hier.
Das tut meiner Laune überhaupt keinen Abbruch, fühle ich mich mit meinen zwei Hemdchen und zwei Unterhosen, mit Wanderhose und -Stab sowieso eher außergesellschaftlich, und das ist gut so. Da lässt es sich besser beobachten – sich selbst und das Drumherum. Wurde sogar schon gefragt, ob ich auf der Walz bin, schönstes Kompliment ever!
Die gestrige Etappe war lang und anstrengend, das spüre ich heute, also geht es gemächlich, sehr lang-, und einsam durch wunderschönen Wald mit zahlreichen Wildschweinspuren. Immer wieder schnuppere ich, ob ich die typische Maggi-Note rieche, aber alle Schweinchen scheinen sich im noch tieferen Wald versteckt zu haben – und das ist mir sehr recht! Habe wirklich großen Respekt vor der Begegnung mit Wildschweinen.
Auf einem Tümpel dümpelt eine Enten und ich denke mir: Da schau, die scheint in friedvoller Koexistenz mit dem Wildschwein zu leben. Was kann ich tun, um es im Wesen jetzt der Ente gleichzutun, auf dass die Wildsau mich nicht auf den Radar bekommt … interessante Gedankenspiele auf dem Weg zum Franziskus-Denkmal oberhalb der Apollinariskirche über Remagen. Ich bin heute langsam, aber auch entspannt.
Von Tag zu Tag nimmt dieses Gefühl mehr Raum ein. Kein Kampfmodus mehr, kein Angriff oder Flucht-Verhalten, wie es mich in der Vergangenheit unterschwellig doch mehr begleitete, als mir bewusst war und lieb ist – oder war.
Eindrucksvoll erlebt noch kurz vor der Abreise. Da bekam ich beim Zahnarztbesuch wegen einer etwas größeren Aktion eine Betäubungsspritze, und der beste aller Zahnärzte sagt noch: „Da ist übrigens Adrenalin drin. Kann sein, dass Sie etwas Herzklopfen bekommen.“ Und Zack! Dannheim unter Strom. Nicht nur Herzklopfen, nein, das ganze Programm, wie es sich in den vergangenen Zeiten mit gestiegenen Anforderungen angefühlt hat. Aber heute halte ich das kaum aus, will keinen Stress mehr. Noch nicht mal mehr aus der Zahnarztspritze.
Keinen Stress will sie also mehr, die Dannheimerin, und läuft langsam. Fragt sich wieder einmal, ob der Namenspatron nun zu oder mit den Tieren gesprochen hat, und ob ihm die Pflanzen auch etwas sagten?
Mir sagen die Pflanzen etwas. Wenn ich hier den Waldrebenduft der wilden Clematis rieche, denke ich sofort an oder mit früheren Erlebnissen im Zusammenhang mit diesem Duft. Es ist wohl das lymbische System, unser Reptilienhirn, das diese Verknüpfung herstellt, und wer weiß: vielleicht konnte unser reines Reptilienhirn damals ja noch mit den ekstatischen Pflanzenseelen kommunizieren? Ich bemühe mich.
Heute gibt es zum Vesper Waldhimbeeren vom Wegesrand im Überfluss! Dafür brauche ich noch nicht mal mein Taschenmesser, das in der perfekt und eigens für meine Reise angefertigten Hülle ruht. Dank an Jakob Pauli, den seelenvollen Sattler vom Schliersee.
Ich esse also soviel mir passt und bin dankbar über die großzügige Fülle. Nehme nichts mit, versuche nicht, irgendwo welch für später zu verstauen. JETZT ist der Genuss. Kein Horten. Wieder denke ich an den Großvater, den mit der Wetterhex. Er sagte einmal: „ Dein Sarg hat auch keinen Anhänger!“ allerdings auf Schwäbisch, und das knallt noch mehr.
Den Mund noch voll Himbeeren, erreiche ich die Apollinariskirche. Sie erinnert mich von außen ein wenig an Hogwards und da denke ich wieder an die hässlichen Hexen von Odenthal, und dass wir alle spätestens seit Harry Potter wissen, was für hübsche Gestalten sich auf Besen durch die Lüfte schwingen. Hach, was gäbe ich für eine Partie Quidditch. Danke Frau Rowling.
Remagen ist nun erreicht und der Weg in meine heutige Schlaf-Residenz mit dem hübschen Namen „Pension Vanoli“ nicht mehr weit.
Schnell ist klar: hier werde ich einen Pausentag einlegen.
Tag 12: Pausentag
Nach starkem Regen und einer erholsamen Nacht kommt mir dieser weitere sechste Tag meiner persönlichen „Erschöpfungsgeschichte“ wie frisch gewaschen vor. Ein kräftiger Wind weht und ich freue mich darauf, nach dem Frühstück diesen Blogartikel anzulegen und mit dem Schreiben zu beginnen.
Es ist wirklich nicht nur mein Körper und die Muskulatur, die diese Pause benötigen. Auch mein Geist und meine Seele benötigen Ruhe, um das Erlebte zu reflektieren und zu sortieren.
Zur Mittagszeit mache ich einen kleinen Ausflug, um das Friedensmuseum um die Brücke von Remagen zu besichtigen. Hier hat sich Ende des Zweiten Weltkriegs Dramatisches ereignet. Die Amerikaner konnten diese, für den Transport nach Westen, wichtige Bahnbrücke überraschend flink besetzen. Darüber gibt es wohl sogar einen Film. Im Anschluss stürzte die Brücke doch noch ein und aus dem angrenzenden Auland wurde ein menschenunwürdiges Kriegsgefangenelager. Daran wird hier erinnert mit dem dringenden Appell, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Homo kriegerens …
Nach zwei Stunden verkrieche ich mich wieder still und dankbar in meinem Zimmer in der Pension Vanoli, das ist für mich und heute der beste Ort.
Nun bin ich gespannt, was mir das Wetter morgen auf meinem Weg Richtung Andernach bescheren wird. Waden sind erholt, Socken frisch gewaschen.
Ich wär dann wieder bereit zum nächsten Kapitel „franzi geht dann heim“.
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