09 Aug franzi geht dann heim – Zwischenblick Vlll
Sonne, du schöne. Da bist du ja wieder! Ich stehe heute, an meinem Pausentag, auf der Terrasse der Kenzenhütte und blinzle gen Osten.
Das Frühstück war fein, und noch feiner ist, dass der phänomenale Gebirgskranz um mich herum von der aufgehenden Sonne beschienen wird. Ja, es scheint wirklich so zu sein, dass die Schlechtwettertage erst mal vorbei sind. Danke
Hier kommt direkt der Hinweis, dass nach wie vor wegen mangelnder Netzverbindung, Fotos später eingefügt werden. Auch Korrektur und Textaufbau werden zu einem anderen Zeitpunkt optimiert. Ich bitte um Nachsicht – und Phantasie.
Dies ist jetzt der erste – quasi alpine Rückblick. Seit Sonthofen gehe ich auf dem Maximilianweg, der in der Komoot-App schlicht mit MAX markiert ist. Und es gab schon ein paar maximale Erlebnisse. „Max“ aber eigentlich nach König Maximilian von Bayern, dem Vater des exaltiert denkwürdigen Ludwig ll, dem Märchenkönig. Ja märchenhaft war auch schon Vieles auf dem Weg der vergangenen Tage. So möchte ich diesem Artikel ein Zitat von Ludwig voranstellen, dem ich eigentlich nichts weiter hinzuzufügen habe:
„Ich kann nicht leben in dem Hauch der Grüfte, mein Atem ist die Freiheit. Wie die Alpenrose bleicht und verkümmert in der Sumpfluft, so ist für mich kein Leben, als im Licht der Sonne, in dem Balsamstrom der Lüfte. Lange in der Stadt zu sein, wäre mein Tod.“
Danke Ludwig. Dennoch wohlan denn, zum persönlicher Rückblick der vergangenen Tage:
Tag 42: Oberstaufen – Sonthofen – Unterjoch
Im Zeichen des Regens. Das könnte wirklich die Überschrift sein. So liege ich im sehr frühen Morgengrauen in Oberstaufen meinem Bett im Haus Daheim. Es regnet in Strömen und ich bekomme leichtes Muffensausen, ob ich dem, was da jetzt kommt, gewachsen bin und ob ich das schaffe. Starker Nebel quillt von den Bergen runter und legt sich besänftigend ins Tal.
Beim Frühstück im Haupthaus Hotel Adler erfahre ich aus der „Adlerpost“ auf meinem Tisch, dass heute Namenstag des Johannes ist und denke daran, dass ich zu Johanni, also am 24. Juni aufgebrochen bin. Johannes ist derjenige der vier Evangelisten, der mich am stärksten anspricht. Seine Darstellungen in den Kirchen locken mich, ist sein Symbol doch der Adler – und damit sitze ich wieder real in meinem Hotelfrühstücksraum, des Hotels mit eben dem Symbolnamen.
Außerdem steht im „Adlerblättle“, dass zum Nachmittag Gewitter erwartet wird. Na Bravo, das ist ja genau NICHT mein Ding. Also versuche ich mich motivationsmäßig in Adlerhöhen zu erheben, um das Gewitter einfach zu überfliegen.
Den ersten Abschnitt meines heutigen Weges lege ich mit der Bahn zurück, will spontan anheben „Uff d‘r schwäb‘sche Eisebahna“ bin mir aber nicht sicher, in welchem Bundesland ich gerade bin. Dieses Allgäu ist wirklich ein verblüffendes Gebiet.
Vor der Abfahrt lege ich an der Bahnübergangs-Schranke zwei ausgewählte Steine aus meiner bisherigen kleinen Reise-Sammlung ab. Den einen bitte ich, alles schlechte Wetter zurückzubehalten und den anderen, alle körperlichen Einschränkungen. Die 10 Kilo auf meinem Rücken äußern sich ab und an durch kleines Ziepen in der rechten Schulter und leises Zwicken in der linken Hüfte. Also, ihr Steine, behaltet Regen und Schmerz und lasst mich fröhlich weiterziehen.
Sonthofen ist dann zu Fuß recht schnell durchquert und hoch aufwärts geht es auf dem Asphaltweg mit herrlichem Fernblick und OHNE Regen oder Gelenkautsch … bisher … ich will mich ja nicht zu früh freuen. Dennoch kommt mir ein Gedankenspiel in den Sinn, das in den folgenden Tagen heranreift. Das „Was wäre, wenn“-Spiel:
Was wäre, wenn ich genau die wäre, die sich auf der Hochweide nicht vor Kühen fürchtet (ich habe vor Jahren zwei mal mit dem Hund eine Herden-Attacke überstehen dürfen, das macht keinen Spaß und sitzt tief – aber heuer bin ich ja ohne Hund unterwegs).
Was wäre, wenn ich genau die wäre, die sich nicht vor Gewitter am Berg fürchtet (bin bei meiner Alpenüberquerung „franzalpina“ 2019 in ein starkes Berggewitter geraten, kauerte gefühlt ewig flach am Boden, Stirn auf den Händen im Matsch, bis es endlich vorbeigezogen war. Auch das sitzt tief.)
Wie würde es sich also anfühlen, wenn ich fortan selbstbewusst und unerschütterlich, im wahrsten Sinne aufrichtig durch die Welt ginge. Ich versuche, mir das bis ins kleinste Detail von Körperhaltung, Reaktionsmuster und Betrachtungsweise vorzustellen, und das tut sehr, sehr gut.
Aufrichtig sein, das kommt in den Vordergrund. Sich nicht mehr in die Zwischenräume verbiegen.
Steil geht es jetzt durch einen Fichten-Wurzel-Wald hinauf, an einer Schlucht vorbei. Die Schönheit der Natur rührt mich wieder einmal zu Tränen, und ich frage mich: Kommt „Schlucht“ von „Schluchzen“?
Bevor ich tiefer einsteigen kann, kommt mir ein Wanderpaar entgegen. Wieder die Beobachtung: Sie – fasziniert und angetan von meinem Weg. Er – will mir genauer erklären, wie weit ich auf der heutigen Strecke bin. Er kann es nicht kommentarlos und pseudohinterfragt durchgehen lassen, dass ich (Dank meiner Komoot-App) sehr genau weiß, wie weit ich auf dieser Strecke bin und wo ich mich befinde.
Nun denn, ums Rechthaben geht es auf diesem Weg schon lange nicht mehr. Ich grüße freundlich und gehe weiter. Immer noch ohne Regen.
Entspannt spaziere ich, das Was-wäre-wenn-Mantra zitierend, an Kühen vorbei und überquere ein weites Hochmoos auf schmalem Bretterpfad. Von einer, die auszog, das Fürchten zu verlieren.
Mir gehen meine bisher gesammelten Lieder durch den Kopf.
Ich freue mich aufrichtig, diesen musikalischen Reisebericht am 26.8. zum Kunstbaden in Essen vorstellen zu dürfen und frage mich gerade, wie ich aus all den schönen Liedern wählen soll. Da komme ich auf die Idee „Musisch Roulette“. Jawoll, ich werde eine quasi Lotto-Fee oder einen Lotto-Foo auswählen, der dann mit Roulette-Scheibe eine Zahl und damit das entsprechende Lied nebst dazugehörender Wander-Episode wählt. Hach, das wird schön.
Noch schöner wird es jetzt und genau hier, am Tiefenbacher Eck. Ich bleibe am Berg, lasse wegen wirklich stark vermanschtem Boden und entsprechender Rutschigkeit den Gipfel mit Namen Spieser weg – Nomen est manchmal vielleicht Omen – und darf in den folgenden 4 Kilometern mein „persönliches Wacken“ dieser Tage durchschreiten – bis weit über die Knöchel. Von oben bleibt es trocken, will ich nur kurz erwähnen. Schulter fein, Hüfte nicht zu spüren, auch das nur am Rande.
Beim weiteren Abstieg kreuze ich immer wieder den Weg eines Vaters mit seinen beiden Söhnen. Kurze Grußwechsel, mehr nicht. Doch wie es diese besonderen Berg-Regeln so wollen, treffen wir uns am Zielort, in Unterjoch, vor derselben Unterkunft, dem herrlich blumengeschmückten „Haus Irene“ wieder.
Eine echte Perle, das Haus und vor allem die gleichnamige Chefin des Hauses. Frau Irene. Mit klarer Ansage in entzückendem Kölsch, nimmt sie uns die Wanderstöcke direkt an der Haustür ab und lotst uns ums Haus, hinunter in den Keller – Matsche-Sperrgebiet. Alle Abläufe längst erprobt, sinnvoll und aufs Beste vorbereitet.
So liege ich 20 Minuten später frisch geduscht in meinem Einzelzimmer. Frau Irene kocht sogar noch für uns vier Wandersleut, weil es im Ort sonst halt nichts mehr gibt. Alle guten Eindrücke, die ich schon beim ersten Buchungs-Telefonat mit Frau Irene hatte, die vor 53 Jahren aus Köln auszog, um das Allgäu lieben zulernen, alle werden sie über troffen. ImHaus Irene fühle ich mich sicher aufgehoben und herzlich umsorgt.
Im Gästeraum werde ich von den anderen Gästen bereits erwartet, mein Ruf ist mir wohl schon vorausgeeilt: „Da kommt die Frau, die so lange läuft …“ Genau die.
Lange geht das nette Gästeplaudern für mich nicht. Die heutige Tour war für meinereine sehr anspruchsvoll, viel steil hinauf, viel steil hinab. Aber: ohne Regen, ohne Schulterpieks und ohne Hüftautsch. Danke ihr zwei Steine am Bahnübergang in Oberstaufen, ihr habt ganze Arbeit geleistet.
Tag 43: Unterjoch – Pfronten
Unter dem Sorgenschrofen, dem Unterjocher Hausberg, bin ich also sehr sorgenfrei aufgewacht. Erfahre beim Frühstück von Frau Irene und ihrem Mann, der eine beeindruckende Skifahrerkarriere hingelegt hat, wie ich an den Auszeichnungen im Treppenhaus ablesen kann, einiges zu Land und Wetter. Befinden wir uns hier doch im Wechselgebiet, direkt nebenan ist der österreichische Rucksack „Jungholz“.
Ich beschließe, noch ein Stündchen zu trödeln, da dann die Chancen steigen, eine Regenpause zum Aufbruch zu erwischen. Ja, heute ist es wieder nass, egal. Ich packe meine Ukulele aus und zupf-summe mich durch mein Reise-Lied-Repertoire. Handschriftlich notiert und in einer Mappe versammelt, wieder mehr Gewicht in meinem Rucksack, aber eben auch mehr Spaß.
Von guten Wünschen und hervorragenden Blumen-Pflege-Tips von Frau Irene begleitet, einem Reisesegen gleich, breche ich in meiner kompletten Regenmonitur auf, nebst durchsichtiger Mülltüte über meinem Wanderhut.
Weiter geht mein „Was wäre wenn“-Spiel. Was wäre, wenn ich genau die wäre, die jetzt unter dem Regen wächst und gedeiht.
Ungezwungen und gut gelaunt führt mich der Weg an die Vils, die in diesen Tagen wegen der starken Regenfälle wirklich ein tosender Strom ist. Was für Kräfte hier wirken. Manchen Gedanken, manches Gefühl reißen die Wasser einfach mit sich. Was wäre … wenn ich genau die wäre, die dem Wasser jetzt die letzten Sorgen und Zweifel mitgäbe.
Vielleicht hab ich es ja auch über die letzte Nacht in den Sorgenschroben hinaufgeträumt. In jedem Fall gehe stark und fröhlich, Lieder singend durchs Tannheimer Tal. Der Name verpflichtet.
Durch schwachen Regen und saftige Landschaft geht es an der Vils entlang, immer weiter an der wild sprudelnden Vils entlang, bis ich irgendwann in Pfronten einlaufe, mein heutiges Tagesziel. Die Etappe war wegen zu erwartendem Muskelkater bewusst nicht so lange und anspruchsvoll gewählt. Aber nichts dergleichen: Muskeln – geschmeidig, Schulter und Hüfte – tippitoppi. Auf geht‘s ins Tannheimer Tal.
Frau Irene, ihr über 53 Jahre im Allgäu bewahrter Kölscher Dialekt, und ihre dazugehörende Lebens-Bereitschaft – unerschütterlich, pragmatisch, heiter – wirken in mir nach: wenn ich mit 83 Jahren noch so froh durch die Gegend hüpfen darf … was wäre, wenn ich genau die wäre …
Ich komme also an meine heutige Pension mit dem vielversprechenden Namen „Freiheit“. Wie inzwischen viele Unterkünfte, nicht mehr mit besetzter Rezeption, sondern mit einem digital zu bedienenden Tür-Schloss. Erfreut stelle ich fest, dass mich diese Herausforderung heute nicht beunruhigt, im Gegenteil. Nach einem kleinen Fehlversuch bin ich drin, hurra.
Beim Blick in den kleinen Badezimmer-Spiegel fällt mir auf, dass der Weg und das Wetter, die Sonne und die Gedanken sich weiter durch meine Gesichtsfarbe gefressen haben. Inzwischen sind es keine Vitiligo-Flecken mehr, es hat die gebräunte Haut zu kleinen Pünktchen zerfetzt. Sommersprossen rückwärts. Hey, Pipi Franztrumpf … die macht, was ihr gefällt, genau so!
So mache ich mich auf der Suche nach einem Abendessen auf in den Ort und lande im Brauhaus. Großer Rummelbertrieb, ich bekomme ein vorletztes Plätzchen am Tresen zugewiesen und das ist mein Glücksplatz. Neben mir sitzt Siegfried. Ich erfahre erst später im Verlauf unseres Gespräches, dass er Siegfried heißt, dass er seit 80 Jahren Ski fährt, nächstes Jahr wieder an der Marmolata. Dass er morgen, wenn es trocken ist, Holz machen wird. Wenn es aber regnet, geht er ins Fitness-Studio. Was für ein klarer Geist. Allgäuer Urgestein, bestens geformt von Berg, Wind und Wetter.
Das sind die Geschenke des Weges – neben den herrlichen Landschaftsansichten – die Gespräche mit den Menschen übers Leben, über die Gegend – könnte sagen: über Gott und die Welt. Von Siegfried erfahre ich, dass meine Pension Freiheit früher DER Gasthof für Fischgerichte am Ort war. Klar, direkt an der Vils gelegen, kann man sich vorstellen, dass hier früher am Eingang in den Biergarten dieses riesige Aquarium stand, in dem sich die zum Verzehr angebotenen Forellen tummelten. Ich glaube, das gibt es heute nicht mehr. Heute heißt es hier ja auch Freiheit.
Frei und fröhlich gehe, besser hüpfe ich nach dem Genuss von sogar zwei Bier in die freiheitliche Bettstatt, lasse den Tag, die Tour, das Leben Revue passieren und schlafe selig ein.
Tag 44: Pfronten – Füssen
Der Wetterbericht für heute ist – gelinde gesagt – miserabel. Nicht nur Starkregen, sondern auch starke Windböen. Ich sitze in meinem Freiheits-Frühstücksraum und beschließe, ein wenig Musizier-Trödelei zu betreiben, auf dass der Regen-Radar vielleicht doch noch ein wenig gutmütiger wird. Kurz versuche ich, vor meinem inneren Auge hier den Gastraum der ehemaligen Fischwirtschaft aufleben zu lassen. Schade, dass ich nicht herausfinden kann, wie der Gasthof einstens hieß. Siegfried kann ich heute nicht mehr fragen.
Ich breche irgendwann auf und beschließe, die Strecke etwas zu ändern, keine Höhen heute wegen des Sturmes, sondern schön „en bas“ an der Vils entlang. Schön ist es hier wirklich, ich gerate für ein kleines Stückchen sogar in einen Alpaka-Konvoi, die Kuschelweichen Tiere werden von Kindern und Familien am weitläufigen Uferweg entlang geführt.
Aber es regnet viel und der Wind bläst zum Teil wirklich arg. Mein Cape flattert im Wind, die Plastiktüte auf meinem Hut sammelt ergiebige Pfützen, die sich dann unkontrolliert in meinen Nacken ergießen – Hauptsache, Opas Hut bleibt heile. Im Gegenlicht der ab und an durchscheinenden Sonne wird mir sogar fast ein Heiligeschein zu Teil.
Zwei Tage lang hat die wilde Vils mir nun den Weg begleitet, geleitet und mit die Seele frei gespült. Ich komme an einem Schild vorbei, das einen hier angelegten Keltischen Baumkreis ankündigt und beschreibt. Trotz Regen gönne ich mir den gesamten Rundgang und finde es wunderbar, dass dies, laut Erklärschild, auf Initiative eines Lehrers mit seiner Klasse entstanden ist. Hier im Allgäu war es sicher einstens keltisches Siedlungsgebiet und das wenige, was aus dieser Kultur überliefert ist, lässt sich in unseren alten Märchen und Kinderreimen wieder finden. Schön, dass der Herr Lehrer hier seine Schüler noch weiter mit dem Erbe vertraut gemacht hat.
Irgendwann stelle ich fest, dass ich hier, immer schön an der Vils entlang, recht lange auf österreichischem Boden gewandelt bin. Bald wird das Rauschen zu meiner Rechten immer heftiger. Es ist der Lech, der durch den Regen der letzten Tage wirklich zum donnernden Strom durch die Schlucht schießt. Auf einer Stele lese ich, dass dies hier eine denkwürdige Brücke ist, die zur Via Claudia Augusta gehört, also schon von den alten Römern genutzt wurde, wenn sie von Italien den wichtigen Handelsweg nach Augsburg nahmen. Vorher noch Die Kelten, jetzt die Römer, ich bin mal gespannt, was mir in Füssen blüht.
Auf dem letzten Waldstück sehe ich einen schwarzen glänzenden Salamander. Wie passend, diesen nassen Tag von einem so besonderen Tier begleitet zu wissen. Sieht aus, wie ein kleiner Dinosaurier aus Urzeiten. Kelten und Römer, da könnt ihr einpacken!
Füssen selbst will irgendwie nicht mein Ort werden. Das liegt sicher am Regen, und da kann das arme Füssen nun wirklich nichts dafür. Ich bin von Wind und Wetter einfach durch und sehne mich nach heißer Dusche und Nachmittagsruhe – es ist 15 Uhr.
Genau die rechte Zeit im Old Kings Hostel einzuchecken. Wieder digital, wieder ohne Rezeption, dafür mit modernen Ansichten von König Ludwig ll dekoriert. Natürlich wird man hier an jeder Ecke an den Märchenkönig und seinen Vater Max erinnert, die mit ihren naheliegenden Schlössern für ungebrochene Touristenströme sorgen. Vor allem im asiatischen Raum scheint die Architektur Neuschwansteins für ein ganzes Weltbild zu stehen. Zwei meiner insgesamt 7 Zimmernachbarinnen und Nachbarn sind wohl extra für den Schlossbesuch aus dem fernen Osten angereist. Wirklich entzückend, wie sie sich allein schon durch ihre Kleiderwahl auf das für morgen geplante Ereignis vorbereitet haben.
Ich liege also recht bald frisch und warm geduscht in meinem Bett und erwäge ernsthaft, den Tag als solches und ganz im Zeichen der Katharsis zu beenden. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich dieses Hostel wegen der Adresse gewählt habe: Franziskanergasse.
Also los geht‘s Franzi. In dem Büchlein über den Heiligen Franz lese ich fast jeden Abend. Eine weitere Wendung dieser Reise, die so sicher nicht geplant war. Franz und Franzi. Das Franziskaner Kloster will jetzt also gefunden werden. Auf dem Weg singe ich in der Ulrichkapelle, dann in der Kripp-Kirche und schließlich habe ich sogar Glück und habe die große prächtige Stephans-Kirche des Franziskaner-Klosters ganz für mich allein. Und singe. Und schreibe mich sogar ins ausgelegte Gästebuch hinein, mit meiner Bitte, die die Brüder wohl im nächsten Gottesdienst mit aufnehmen wollen, so steht es zumindest geschrieben. Egal, allein die Tatsache, dass ich mir und meinen Hirnwindungen die Mühe mache, den Wunsch klar zu erfassen und niederzuschreiben, bewirkt Klarheit – die große Kraft des Schreibens, das ist sie.
Auf dem Heimweg gibt es ein reizendes Konzert der Füssener Blaskapelle bei kurzem Abendsonnenschein und dann noch eine heiße Schokolade im Café. Passt alles.
So komme ich wohlgemut zurück in meine Alte-Könige-Butze und gerate im Aufenthalts-Raum noch ausgiebig ins Gespräch mit Uli, einer Jakobsweg-versierten Wanderin. Nett, wie bunt das Trüppchen in unserem Schlafraum ist: zwei Asiatische Ludwigs-Prinzessinnen, eine Wandersfrau, ein Paraglider … und die andere Wandersfrau fällt müde und zufrieden ins Bett. Stockbett unten, zum Glück.
Tag 45: Füssen – Schwangau – Tegelberghaus – Kenzenhütte
Richtiges Frühstück gibt es im Hostel nicht, aber Kaffee und Toast. Den Kaffee mache ich mir, als ich schon recht früh aufwache, leise aus dem Schlafraum schleiche und im Aufenthaltsraum bei einer ersten Schreibrunde meine Erlebnisse und Gedanken sortiere. Das „Was wäre wenn“- Spiel hat sich zum Lied ausgewachsen, und ich kann wirklich nicht sagen, warum, es ist ein englischer Text geworden – vielleicht wegen den „Old Kings“? Egal.
Die Melodie ist noch nicht so weit, aber der Text lässt sich schon gut und motivierend sprechen. Nach einer zweiten Tasse Kaffee mit Uli und weiteren Gesprächsthemen, breche ich auf. Uli sagt, heute wird das Wetter gut. Meine App und mein Blick zum Himmel sagen: da kommt noch was …
Ich gönne mir ohnehin die Strecke von Füssen nach Schwangau mit dem Bus, da kann sich das Wetter noch ein paar Kilometer weit überlegen, wohin es seine Regenwolken verschieben möchte.
In Schwangau habe oder hätte ich nun die Möglichkeit die Schlösser zu besichtigen, aber mir ist so überhaupt nicht nach Menschentrubel, also suche ich den weitläufigsten Weg um den ganzen Zirkus herum und belohne mich noch dazu mit einer Seilbahnfahrt auf den Tegelberg. Erster Regen. Aber das hat der Paraglider schon genau so angekündigt, weswegen hier heute auch keiner startet.
Der Seilbahn-Gondoliere versucht noch einen Funken Hoffnung auf trockenen Weg zu versprühen, doch spätestens im Tegelberg-Haus darf ich der Realität ins Auge sehen, mit dem Satz des Hüttenwirts: „Von vorne druckt‘s und von hinten staut‘s – des wird heut nix. Aber du hast gute Wettersachen, lauf los.“
So nehme ich nicht den Weg oben über die Platte, denn es stürmt auch heute noch gewaltig. Ich freue mich auf eine angeblich „entspanntere Regenvariante“. Diese beiden Worte bedürften meiner Meinung nach einen klareren Definition. Als ich nach Stunden, zwei Starkregengüssen am steilen, zum Teil vom Regen runter gewaschenen Hang, an überspülten Holzstegen entlang und durch steilste Stufentritte im Tal auf dem weiter führenden Forstweg ankomme, brennen die Oberschenkel.
Alle Mühen werden durch die Schönheit dieser Gegend aber sowas von wettgemacht. Ich verstehe den König Max und seinen Sohn den Ludwig so gut, dass sie ihre Schlösser genau hier bauen wollten.
Wobei ich fraglich finde, wie man dieser gewaltigen Schönheit der Natur hier noch unbedingt eines draufsetzen will – im wahrsten Sinn des Wortes.
Dass die Pöllat-Schlucht direkt unterhalb von Neuschwanstein gesperrt ist und bis auf Weiteres bleiben wird, spricht für sich. Hier droht Steinschlag von immensem Ausmaß, an den sich keiner dran traut, weder hydraulisch noch pyrotechnisch. Wer wollte schon Schuld daran sein, wenn plötzlich das ganze Schloss hinterher purzelt, womöglich mitsamt den entzückenden Ludwigs-Prinzessinnen.
Habe ich es schon erwähnt, dass ich es liebe, allein zuwandern? Dadurch komme ich nämlich mit den Waldarbeitern, den Seilbahn-Gondelieres, den Frühstücks-Servicekräften und Tresen-Siegfrieds ins Gespräch und erfahre soviel mehr über Land und Leute, als in jedem Reiseführer stehen könnte.
Auf dem Forstweg geht es für mich also weiter. Durch einen märchenhaft schönen Wald mit beeindruckend von Wind und Wetter geformten Ahornbäumen. Wie Tänzerinnen haben sie Schnee und Wetter über Jahrzehnte getrotzt.
Ja, ich gebe es unumwunden zu, heute habe ich meine körperlichen Grenzen erahnen dürfen. Aber der Weg war so schön, dass sich die gestrige Katharsis mehr als bezahlt gemacht hat. Und was das Schönste war: direkt zu Beginn, also kurz hinter dem Tegelhaus habe ich bei strahlendem Sonnenschein erst einen und dann insgesamt vier Steinböcke sehen dürfen.
Diese erhabenen Könige der Berge scheinen zu wissen, dass kein Jäger ihnen auflauert, dass sie den Menschen nicht zu fürchten brauchen. In aller Seelenruhe laufen die vier grasend ein Stück parallel den Hang entlang mit mir mit. Ich kann ihnen auf die geringe Entfernung sogar in die Augen schauen, und ehrlich – für mich gibt es keinen magischeren Augenblick, als den eines Steinbocks. Was mir gestern im Regen am Fluss der schwarze Salamander war, sind mir heute die Steinböcke. Schon zu dem Zeitpunkt ist klar, der Tag, der Weg und „wer auch immer“ meinen es gut mit mir.
Später als gedacht komme ich glücklich aber geschafft an der Kenzenhütte an. Zurecht viel gerühmt, seit 2020 von Franzi und ihrem Team geführt. In perfekt vorbereitetem und den Gegebenheiten der kleinen Hütten angepasstem Prozedere werde ich aufgenommen und untergebracht. Zehn Minuten später ist auch schon Abendessenszeit. Perfektes Timing. Die Hütte ist voll, ich verräume meine nassen Sachen im überquellenden Trockenraum.
Dann beziehe ich mein Bett im großen Schlaflager, habe sogar ein doppeltes oberes Stockbett für mich ganz allein, das ist fein.
Kurze Überraschung: es gibt hier auf der Hütte keinen Internet- oder sonstigen Netz- Empfang. Kurz denke ich: ja wie will ich denn dann heute Abend posten? Wie will ich morgen den Blog schreiben? Und am aller wichtigsten: wie kann ich meinen Liebsten mitteilen, dass ich nicht etwa bei Sturm und Regen in eine Felsspalte gerutscht bin, sondern leckeres Radler gänzlich offline genieße? Die Hüttenwirtin hat Verständnis und ein kurzes Festanschluss-Telefonat sorgt für familiäre Aufklärung und Beruhigung.
Dann geht es ans wirklich leckere und sehr großzügig bemessene Abendessen der Halbpensionisten. Auch hier: ein bemerkenswert gut vorbereitetes und funktionierendes System. Und nett sind sie alle obendrein. Eine sehr nette Familie aus Heidelberg, nebst vorbildlich friedlichem Hund sind meine Tischnachbarn, die nach dem Essen noch die Wissens-Spiele-Runde eröffnen. Ich bin durch und schaffe es mit vollem Magen und glänzendem Bauchnabel gerade noch, draußen ein paar Takte meiner Lieder zu spielen. Dann bin ich sogar die erste, die ins Schlaflagerstockbett krabbelt.
Deutlich nach mir kommt die Gruppe mit den vielen kleinen bis mittleren Kindern, die vom Abenteuer „Hütten-Übernachtung“ natürlich völlig überdreht quietschen und kaspern. Aber sowohl gute Kinderstube als auch Bergluft – und Zack: noch vor 22 Uhr ist absolute Ruhe im Karton. Faszinierend.
Bleibt noch zu erwähnen: kalt ist‘s. Ich habe heute am Berg den ersten Graupel-Schnee gesehen, der Gipfel war für eine Stunde weiß gezuckert, und in 19 Wochen ist Weihnachten, noch Fragen?
Tag 46: Pausentag auf der Kenzenhütte
Es war kalt in der Nacht, wirklich kalt. Auch wenn der Graupelschnee von gestern natürlich nicht liegen geblieben ist, riecht man hier den Herbst und spürt ihn schon. Somit es immer in den Bergen: irgendwann in den ersten Augusttagen kippt es. Es wechselt das Licht und die rauche Morgenkälte singt ein Lied vom nahenden Herbst.
Zurück im Matratzenlager: Die ersten Wecker klingeln leise in den Nachbarbetten und Menschen krabbeln aus ihren Hüttenschlafsäcken und kriechen hinaus. Ich lasse mir Zeit. Habe heute ja Pausentag.
Am Frühstückstisch angekommen erfahre ich von der netten behundeten Familie – natürlich nur zur Vervollständigung meines Blogartikels – dass der Vater gestern Abend das Wissensspiel gewonnen hat. Ich gratuliere nachträglich von Herzen.
Wieder ist es eine faszinierende Logistik und Sauberkeit, die diesen supervollen Hüttenbetrieb wie in einer fein abgestimmten Choreografie von statten gehen lässt. Ein Hoch auf Franzi und ihr Team!
Bis ich dann vor lauter stiller Bewunderung endlich meine dritte Tasse Kaffee zum Schreibzeug geholt habe, bin ich auch schon fast die letzte im Hüttenraum. Alle anderen sind nun entweder abgereist, weitergewandert oder auf Erkundungs-Runde, bis auf die kleinen bis mittleren Kinder nebst ihren beiden Müttern. Fasziniert und interessiert beobachten sie nun, wie ich meine letzten gesammelten Kräuter zum Buschen dazu wickle. So wird er dieses Jahr, mein Reise-Potpourie Kräuterbuschen. Er duftet wirklich schon toll; und freudig beantworte ich die Fragen der kleinen Schar zu meinen Blumenschwestern. Denke an Schumanns Dichterliebe und das Lied „Am leuchtenden Sommermorgen“. Heine hat das mit den Blumen-Schwestern schon ganz recht beschrieben. Kommt auch in mein Reise-Liederbuch.
Draußen scheint die Sonne. Wunderbares Seelenhell. Wie anders wirkt diese bezaubernde Bergwelt heute. Ich bleibe aber in der guten Stube und schreibe. Offline. Schreibe, um mir weiterhin die Richtschnur zu reichen und zu halten. Richtschnur, um mit all diesen Eindrücken und Bildern, Erzählungen und Erlebnissen irgendwann in ungefähr zwei Wochen wieder in einen halbwegs strukturierten Alltag zu gleiten. Das wird sicher noch spannend.
Zum Mittag steige ich ein Stück auf die „Kesselrunde“ und stelle überrascht fest, dass ich hier kurzzeitig Netzverbindung habe. Also gibt es ein paar Nachrichten in die Außenwelt, bevor ich mich wieder dankbar von der Bergwelt verschlucken lasse.
Eisenhut und Bärlapp, Johanniskraut und Pestwurz, Falke und Eichelhäher, Felsen und Schluchten, so schön ist es mit euch.
Heute ist der Geburtstag meines Vaters, er wäre 87 Jahre alt geworden. Schnell rechne ich und gratulierte ihm, dem einstigen Mathematik-Liebhaber, gern im Geiste zum 29 x 3. Geburtstag. In seinem Angedenken bestelle ich mir einen vorzüglichen Kaiserschmarren, dessen letztes Viertel sogar noch in meine Vesperdose für morgen wandert.
Die Sonnenterrasse der Kenzenhütte ist rappelvoll mit Tagesgästen, die hier zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auch vier mal am Tag mit dem Bus, sagen wir Büslein, hoch kommen. Und ich kann jetzt schon sagen, dass auch ich sicher nicht zum letzten Mal hier oben war.
Nach einer weiteren Schreibrunde im Liegestuhl gibt es schon wieder Abendessen, und dann wird die Dannheimerin sicher bald wieder in ihr Stockbett krabbeln. Mal sehen, welche Zimmernachbarn heute um mich herum sind.
Morgen geht es dann erst mal wieder ins Tal. Nach Oberammergau, über Schloss Linderhof, wo die Kaiserin Sissi ihre heiteren Jungendtage verbringen durfte. Und das bringt mich nun dazu, diesen Artikel, verfasst auf der Kenzenhütte, in der König Ludwig ll auf seinen ausgedehnten Jagdausflügen auch gern verweilte, mit einem weiteren Zitat von eben ihm ausklingen zu lassen:
„Nichts ist stärker für Geist und Körper, als viel in Gottes freier Natur sich zu bewegen. Dortoben auf freier Bergeshöhe ist die Seele dem Schöpfer näher, schöner und erhabener als im Qualm der Städte, wo die Freuden ihren Sitz wahrlich nicht haben.“
Ludwig ll, König von Bayern, gestorben unter mysteriösen Umständen am selben Tag , wie mein Geburtstag, wohlgemerkt nicht im selben Jahr.
Franziskus und Ludwig, die beiden werden mich noch weiter beschäftigen in den kommenden Tagen, ich habe da schon einen interessanten Ansatz – nächstens mehr.
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