29 Jul franzi geht dann heim – Zwischenblick Vl
Genau fünf Wochen bin ich heute auf Wanderschaft. Diese folgenden Tages-Etappen, dieser Abschnitt meiner Tour ist geprägt von Regen und anderen Wanderwetterunliebsamkeiten. Es ist wirklich aufregend, wie sich die Landschaft weiter und weiter wandelt, wie mir dieser Dialekt so vertraut ist – auch wenn es eine zwiespältige Liebe ist: in diesem Dialekt bin ich zuhause, ich verstehe die Nuancen der Melodie, die ganze Nebensätze überflüssig macht. Vor allem liebe ich es, jeden Morgen mit meiner Mutter zu telefonieren, beide mit der hehren Ambition uns in breitestem Schwäbisch mindestens einmal gegenseitig zum Lachen zu bringen.
Auf der anderen Seite geht es mir auch oft so, dass ich im schwäbischen Sprachklang die Großzügigkeit, die leichtherzige Hingabe vermisse und ein Gefühl von Enge bleibt. Beim Lauschen schwäbisch sprechender Frauen ist es manchmal eine leichte Verkniffenheit, die ich meine, rauszuhören, bei Männern etwas wie eine Bedienungsanleitung für Kleinmotoren, oder so ähnlich. Man denke an Daimler und Porsche.
Nun habe ich hier über einige Etappen die Möglichkeit und einzigartige Chance, diesem rauen und wirklich unverstellten schwäbisch der Alb-Region nachzuspüren – mit ohne Regen und Gewitter wirklich aufregend. Das liegt an dieser wirklich besuchenswerten Landschaft.
Wohl an denn, so lasse ich die vergangenen Tage Revue passieren. Dies ist auch eines der Worte über das ich viel sinniert habe: passieren. Das bedeutet, es geht vor bei, es zieht vorüber. Wenn mit aber etwas passiert, dann ist es fix eingebrochen in mein Leben und immer ein Stück weit unverrückbar … so assoziiere ich frisch drauf los.
Tag 32: Tübingen – Käpfle
Der Morgen in der Tübinger JuHe beginnt mit sanftem Nieselregen. Der Frühstücksraum ist rappelvoll mit rappelgutgelaunten jungen Menschen zwischen 9 und 13 Jahren – sehr grob geschätzt, und dem zuständigen Lehr- und Pädagogik-Personal. Es ist eine reizende Zukunft in die ich da blicke, ehrlich, ich bin zuversichtlich.
Irgendwann reiße ich mich los, und hätte doch so mäuschengern noch mehr erfahren vor dem Haus der Urgroßmutter in Kroatien, oder dem großen Bruder bei der Bundeswehr, oder den kleinen Kindern des Deutschlehrers.
Im Blick auf die Wetterlage und die geplante Strecke heißt es jetzt aber: Carpe diem, oder auch Cape regen … Mein blaues Super-Wander-Woman- Cape kommt wieder zum Einsatz.
Der Weg führt an sich direkt am Neckar entlang, doch da hier derzeit großangelegte Renaturierungs-Maßnahmen umgesetzt werden, führtvder Weg lange an einem aufwändig beschrifteten, informativ bedruckten Bauzaun entlang. Mir drängt sich der Gedanke auf: was der Mensch da in jahrelanger, achbwas, jahrhunderte langer Arbeit versaut hat, muss er jetzt wieder „gerade biegen“ soll hier heißen „in die Krümmung zwingen“, damit wieder mehr Überlauf-fläche, Artenvielfalt und ökologisches Gewissen gepflegt wird. Gut, dass es geschieht. Schade, dass der Mensch überhaupt so weit eingegriffen hat in seinem steten Bemühen, noch schneller, noch weiter, noch höher, noch mehr …
Schließlich komme ich, gemeinsam mit der Ammer, wieder an den Neckar, denke noch mal an mein Entringen, Ammerbuch im Schönbuch, Bilderbuch meiner Kindertage und überquere den Neckar.
ich denke an die unterschiedlichen Flüsse, die ich im Verlauf begleite, überquere, beschwimme und beschließe, auch diese franzenstypisch zu katalogisieren, wie ich es mit den Pflanzen ja auch schon begonnen habe.
Den Neckar lasse ich also hinter mir und dann geht es auch schnurstracks steil hoch. Schwäbische Alb kündigt sich an. Oben auf den Feldern der Hochebene singe ich mein Lied des Tages, „Es regnet“ und habe wirklich Spaß daran, dass mir der Wind mein Cape um die Ohren wedelt. Er hat wahrscheinlich Spaß an meinem Lied, so haben wir alle etwas davon.
Ich komme nach Immenhausen, die Ortschaft mit dem schönsten Stadtwappen. Eine Frau steht an ihrem Auto in der Einfahrt ihres Häuschens. Sie mustert mich unverhohlenen spricht mich an. Da entspinnt sich ein herzlicher Austausch, sie fragt sehr interessiert nach – hier wieder mit der Note „sehnsuchtsvoll“. Dann kommt, in begnadeter Präzision des Dialekts der Satz: „Ha, dafir ben i etzat z‘alt. Außerdäm han i a Angschdschdörung.“
Keine weitere Erläuterung nötig.
Sie will mich zum Kaffee einladen, doch mit Blick auf den dunkelen Himmel und dem Stichwort (Gewitter-)Angsstörung lehne ich dankend ab. Es zieht mich weiter, meinem Tagesziel entgegen. Dem Käpfle. Eigentlich schade, denn gerade diese unvorhersehbaren Begegnungen genieße ich so sehr.
Der Turm, den ich am Beginn des Tages am fernen Horizont als meinen Köpfles-Turm ausgemacht habe, ist schon noch ein ordentliches Stück entfernt, aber ich stelle mitzunehmender Erfahrung der Tage, Etappen und An-, sowie Fernsichten fest, dass ich am Tag etwa so viel laufe, wie ich anfangs vom Ausgangspunkt bis zum Horizont sehen kann. So weit das Auge reichet, soweit wird das Füßchen gehen … sehr frei nach Hölderlin.
Irgendwann, nach einigen Kilometern Feld, Wald, Wiese steht der letzte Anstieg an und es donnert. Einmal. Unüberhörbar.
Von „Angschdschdörung“ bin ich wirklich ein gutes Stück entfernt. Habe mir über die vergangen Wochen ja auch das eine oder andere Mut-Mach-Mantra geschnitzt, mit dem ich mich aus den unabänderlichen Situationen und Wetterlagen singend hinauslaufe und das klappt gut! Bei meinem Wanderbericht am 26.8. beim Kunstbaden werde ich das gerne teilen – wer weiß: vielleicht gibt es das auch noch in den kommenden 3 Wochen als Lied des Tages.
Wie dem auch sei, mit meinem gleichmäßigen Schritt-Sing-Sang den Berg hinauf (zurück zu gehen ist keine Option, weil ebenso frei dem potentiellen Gewitter ausgesetzt und eben weiter weg vom Ziel) fällt mir das Gedichtfragment von Rilke ein „Ausgesetzt auf den Bergen“, und ich erinnere mich, was dieses Gedicht schon für unterschiedliche Schattierungen bei mir ausgelöst hat, sinniere weiter, wie groß und großartig diese Wanderseelenräume sind, die sich mir hier eröffnen, und in denen ich so ungestört den einzelnen Schattierungen meines Unwohlseins nachspüren kann. Zwischen Unbehagen und Angst kann ich da meine persönlichen „50 shades of grey“ ausmachen. Hellgrau bis schiefergewitter.
Gänzlich von weiterem Gewitter unbehelligt steige ich auf dem Käpfle oben noch auf den Aussichtsturm und bin tief bewegt vom wundervollen Anblick: Ich kann zurück bis in die Stuttgarter Bucht schauen, sehe den Fernsehturm, der 9 Jahre lang Nacht für Nacht in regelmäßigem Rhytmus in mein Kinderzimmerfenster geleuchtet hat. Wir sind quasi persönlich befreundet.
Hier bekomme ich einen formidablen Anblick von all dem, was bereits hinter mir liegt, im bildlichen, wie im übertragenen Sinne. Und auch einen Vorgeschmack auf das, was vor mir liegt: Die schwäbische Alb in ihrer rauen und kargen Pracht.
Kaum bin ich am Altehof unterhalb des Käpfle unterm sicheren Vordach angekommen, kracht das Unwetter runter. Danke, dass du so lange gewartet hast. Trocken und angstfrei auf vier motorisierten Rädern führt der Weg jetzt spontan und nach Aufhellung völlig unverhofft über die Europäische Wasserscheide, was? Hier schon?
Noch bevor ich weiter über die tieferen Bedeutungsebenen dieses Scheideweges sinnieren kann, springt mir das Abzweigschild zur Bärenhöhle ins Auge. Bärenhöhle, da wollte ich schon so so so lange wieder einmal hin. Nie passte es einfach so in die bestehende Reiseroute. Und jetzt ist die Einladung unüberhörbar: „Komm Fränzchenklein, bist doch immer noch auf den Spuren deiner Kindertage. Wer macht denn die Regeln? Wer ist die Chefin?“ Das lässt sich Wander-Women nicht zwei mal sagen. Meine Wanderung, meine Plan-Änderung! Wer sagt denn, dass ich keinen Fußbreit vom HW5 abweichen darf? Niemand.
20 Minuten später stehe ich vor dem Höhleneingang und erinnere mich schlagartig: Rulaman, der Lieblings-Jugendroman meines Vaters. Ein Buch, dass er all seinen Kindern und Enkelkindern ans Herz legte, das wir alle als Kinder aber grausig fanden. Ich habe es in diesem Frühsommer tatsächlich gelesen und war erschüttert, entsetzt und verärgert über dieses Herrendenken, den Rassismus und die entwürdigende Herabsetzung unsere Vorfahren und der heutigen Naturvölker. Ganz klare Zeichen ihrer Zeit, Ende des 19.Jahrhunderts. Aber ich bin auch fasziniert von der lebendigen Einbettung historischer Funde und Fakten in eine erfundene, doch bewegende Familiengeschichte. Ganz sicher ist dieses Buch absolut kontrovers diskutierbar.
Ich denke an die junge Frau, beschrieben im ersten Blogartikel, mit der ich im Haus Altenberg über ihr Masterthema „Rassismus in Schulbüchern“ gesprochen habe und spüre, da liegt noch ein weites Feld vor uns.
Wie toll, dass ich mich jetzt schon innerhalb meiner eigenen Wanderung zitieren kann, aber das nur am Rande.
Tag 33: Bärenhöhle – Gomadingen
Am frühen Morgen, noch weit vor Sonnenaufgang wache ich auf. Der Regen trommelt ans Fenster, als würde jemand eimerweise Wasser gegen die Scheibe donnern. Ich bin so froh, ein festes Dach über dem Kopf zu haben, in einem trockenen Bett liegen zu dürfen mit der Gewissheit, mir nachher einen Kaffee machen zu können. Wie klein die Belange, wie groß, fast allumfassend in ihrer Bedeutung.
Ich breche recht spät auf. Auf dem direkten Zuweg nehme ich zwei mal die falsche Richtung. Das mit der Orientierung kann heute ja heiter werden heute. Direkt am Waldeingang steht ein Wohnmobil, dessen Außenwände zwei riesige, prominent in schöner Landschaft thronende Wolfs-Ansichten zieren.
Die stechen sicher jedem ins Auge, ist vielleicht auch und gerade das Anliegen der Wohlmobilsbesitzenden. Ich, inzwischen geübt und fokussiert auf das Deuten der Zeichen am Wegesrand, frage mich natürlich: welche Wolfsthemen sind denn heute dran?
Und dann wird es wirklich dunkel im Wald. Nichts mit 50 shades of grey … black, dark and gloomy. Irgendwann komme ich an einer Dreiergabelung vorbei, in deren Zentrum eine schöne Linde steht, mit Bank darunter. Auf einem Schild erfahre ich, dass sie „Jakobslinde“ genannt wird. Wie schön, dass mir der Jakob immer weiter so tröstlich auf diesem Weg beisteht. Eine Winterlinde ist es und sie blüht sogar noch. Das erinnert mich daran, dass ich hier in höher gelegenen Gefilden unterwegs bin, in denen es kühler ist.
Längst vorbei ist das milde Rheintal, in diesen Tages bewege ich mich auf dieser Europäischen Wasserscheide, das heißt, alles Wasser, was bisher nördlich davon runterkam und sich den Weg in die Bächlein bahnte, fliest irgendwann in den Rhein und damit in die Nordsee. Und alles Wasser, was fürderhin vom Himmel oder aber auch aus meinen Augenwinkeln zur Erde fällt, fließt auf verschlungenen Wegen der Donau zu und damit ins Schwarze Meer.
Wann sehe ich die Donau auf dieser Route zum ersten Mal? Irgendwann in zwei oder drei Tagen, je nachdem, wie exakt ich mich an die Wegführung des HW5 halte oder wie spontan ich meinen eigenen Weg wähle.
Ein Schild „Loipe / Skilift“ reißt mich aus meinen Gedanken. Ich muss lachen. Vor einer Woche noch Schwitzen bei 37;Grad und jetzt Regen bei 9 Grad und die Erinnerung, dass der nächste Winter sicher kommt. Am Abend erfahre ich, dass es in den Alpen wirklich geschneit hat – verrücktes Wechselbad.
Doch erstmal geht es zurück in den schwarzen Wald und zu allem Überfluss wird der Himmel jetzt mindestens genau sonschwarz. Intuitiv schauerlich mich um, möchte Sommern irgendwo den Lichtschalter umlegen. Mein Mut-Mach-Mantra wirkt begrenzt. Dann fällt mir ein, dass ich am Morgen noch eine Königskerze für meine Wander-Räucher-Mischung gepflückt habe. Ich hole sie aus der Tasche und trage sie wie in einer kleinen Prozession vor mir her. Das mag dem Rational-Hirn völlig läppisch vorkommen, aber dem kleinen Seelenfranz tut das sehr gut und der Weg aus dem Wald wird leichter.
Ich denke an die Wohnmobil-Wölfe. Habe vor ein paar Tagen einen interessanten Bericht über das Rudelverhalten der wandernden Wölfe gelesen. Vorneweg laufen die Schwächsten, sie Gene das Tempo vor, dann drei von den Stärksten zum Schutz, dann die Normalen und danach wieder die restlichen Starken, um den Trupp nach hinten abzusichern. Und zum Schluss das Alphatier, dem nichts entgeht.
plötzlich fällt mir auf, was es hier und heute so schwer macht. Ich höre überhaupt keine Vögel. Es ist nicht nur dunkel, sondern auch noch still. Und normalerweise erzählt mir der Wald an jeder Biegung eine Geschichte. Heute Stille. Ich soll wohl auf meine inneren Wölfe hören.
Was ist das für ein Geschenk, als ich plötzlich sachtes Vogelgezwitscher tiefsinnig Wald vernehme. Ja, es ist so, wie ich es irgendwann einmal gelesen habe: Der Gesang der Vögel (nicht nur am frühen Morgen) rührt uns so, Weiler uns daran erinnert, dass wir noch am Leben sind.
Ja ich bin am Leben. Ich bin am Leben, bin am Wandern, bin am Denken, bin am Suchen und am Finden, Erfinden, am Lösen, Erlösen.
Der Weg führt mich hinaus auf die besonderennWacholderheiden, die diese Gegend hier kennzeichnen. Die nur weiter bestehen können, wenn der Mensch eingreift. Wenn er seine Schafherden durchgrasen lässt und die sich selbst aussäenden Eschen und Kiefern regelmäßig rausschneidet. Ich habe dazu keine Haltung, ich stelle es fest und schleppe mich den Sternberg hinauf. Ja, es wird etwas mühsam.
Oben angekommen steht der große hölzerne Aussichtsturm des Schwäbischen Albvereins und lädt mich natürlich ein, das Ganze nochmal von einer höheren Warte aus zu betrachten. Die 140 Stufen lassen sich schnell bezwingen und die sicherheitsglasvergitterten Luken lassen dürftig erahnen, wie weit und prachtvoll dieses Land in seiner rauchen Schönheit um mich herum ist. Wo genau verläuft sie hier, die Europäische Wasserscheide, meine derzeitige Vergangenheits-, und Zukunftslinie. Wonkomme ich her, wo will ich hin?
Jetzt erst mal runter, das nächste Wetter ist im Anmarsch, different shades of grey.
Und dann geht es nach Gomadingen. Dieses Tagesziel habe ich ganz bewusst gewählt, weil ich diesen Ortsnamen irgendwo in den Tiefen meiner Erinnerungen erahne, aber keine konkrete Geschichte dazu aufspüren kann, vielleicht fällt mir vor Ort ja etwas ein.
Trockenen Fußes erreiche ich den Ort ganz ohne Not und freue mich aufs Abendbrot … herzliche Grüße zur Guten Nacht an Herrn Goethe und seinen Schimmelreiter.
Tag 34: Gomadingen – Weiler
Regen kommt, Regen geht, Regen bleibt … ich breche dennoch oder gerade deswegen auf. Bin weder aus Marzipan, noch aus Zucker, habe eine sehr gute Ausrüstung und will es wissen:
Was bringt dieser Weg – im Großen und Ganzen und im Kleinen und Zerteilten. Und genau dahin führt mich heute dieser besonders malerische Weg entlang der Lauter. Das Lautertal, zurecht beliebtes Ausflugsziel für Familien und überhaupt! Kanufahrern auf dem Flüsschen mit unterschiedlichen Längen von Kleinkinder-Familientauglich, bis ambitioniert. Und über jeder zweiten Flussbiegung thront eine Burg oder was von ihr übrig blieb.
Eben mal wieder unten in einem Gehöft an der Lauter, sitzt eine ältere Frau am Wegrand. Neben ihr das uralte verrostete Fahrrad, das sicher nicht mehr straßentauglich ist, ihr aber zum Transport der abgetragenen Taschen und des verdreckten Schlafsacks dient. Das ist das erste, was ich von dieser Erscheinung wahrnehme.
Der zweite Eindruck, den ich gewinne, entsteht durch ihr akribisches Umschütten einer undefinierbaren Flüssigkeit von einem leeren Instantkaffee-Schraubverschlussglas in ein zweites. Fasziniert von der besonderen, fast mechanischen Bewegung ihrer Hände, fällt mir der gelb verdreckte Farbton ihrer Haut auf. Mein Blick wandert in ihr Gesicht: von tiefen Furchen wie mit einem Steinmeisel gezeichnet. Das blonde Haar in einem dichten Filz wie eine Kapuze um den Kopf gestülpt. Unsere Blicke treffen sich und augenblicklich schäme ich mich, sie in ihrer Intimität beobachtet zu haben. Ich schaue weg und gehe vermeintlich normal weiter.
Gar nichts ist hier normal. Warum habe ich mich nicht getraut, sie nach ihrer Geschichte zu fragen. Nie werde ich jetzt wohl erfahren, wann sie und vor allem warum aufgehört hat, ihre Haare zu kämmen. Ob sie hier von der Wirtin vielleicht jeden Vormittag eine Tasse Kaffee bekommt und diese dann in ihre Aufbewahrungsschraubgläser füllt. Ob sie in dieser Gegend bleibt oder weiter durch die Lande streicht, wann sie das letzte mal gestreichelt hat oder gestreichelt wurde.
Ganz sicher ist, dass hier am Wegrand ein Geschöpf sitzt, das den gängigen Normen dieser Gesellschaft nicht mehr entspricht. Freiwillig, unfreiwillig, verletzt, verloren, entfleucht – ich werde es nicht erfahren. Weil ich mich nicht getraut habe, über meinen bisherigen Horizont hinaus auf das Unerwartete mit offenem Herzen zu reagieren.
Die Begegnung mit dem Unerwarteten – das könnte eine Unter-Überschrift für die Tour werden.
Ich stelle fest, dass ich derzeit auf einem Abschnitt des Martinsweges unterwegs bin – wie überaus passend, bloß, dass ich meinen Mantel eben NICHT mit der Frau mit dem Fahrrad geteilt habe.
Zur Erinnerung klebe ich mir, nach wohltuendem Singen in der Martinskirche einen Stempel-Kleber in meinen Pilgerausweis. Darf man das? Mein Weg – meine Regeln, ja, ich darf das. Ob sich Martin und Jakob in meiner Ausweishülle nun vertragen werden? Wäre ja wohl traurig und völlig an den Lehren eines Jesus vorbei, wenn die zwei NICHT miteinander könnten. Und schön aussehen tut es obendrein.
Wacholderheide und Maisfelder wechseln sich ab, der Weg führt mich immer höher, dem Schachen zu, den ich eigentlich nur umrunden wollte. Da aber erneut ordentlich Regen vom Himmel fällt, ändere ich den Plan und steige durch den vor Regen schützenden Wald hinauf, statt am Maisfeld drum herum zu verschlammen.
Reh und Kitz springen mir über den Weg und ich genieße einmal mehr all diese geschenkten Anblicke und Begegnungen.
Oben auf dem Schachen steht eine wirklich eindrucksvolle uralte und riesige Linde, die mir sanften oder besänftigenden Schutz bietet mit ihren herzförmigen Blättern und dem Duft. Hier schmeckt mein Vesper besonders gut.
Bald versiegt der Regen. Ich trete aus dem Schutz der Bäume heraus und der der Himmel reißt auf, um mir für einen kurzen Moment den ersten Ausblick auf die Alpenkette zu bescheren. Unverhofft, unerwartet, überwältigend. Mit meine eigenen Füßen über knapp 5 Wochen und ebensoviele Kilometer erlaufen. Ob dieses Salzwasser, das da aus meinem Augenwinkel läuft nun wohl in der Nordsee oder im Schwarzen Meer landet? Ich weiß es nicht.
Der weitere Weg ist abwechslungsreich, führt mich immer wieder steil zu Burgen hinauf und danach wieder zur Lauter hinunter.
Am Abend denke ich noch mal an die Frau mit dem Fahrrad, wo sie wohl Unterschlupf gefunden hat. Wirklich schade, dass ich nicht den Mut hatte, sie nach ihrer Geschichte zu fragen. Ich bin mir sicher, sie hat etwas zu erzählen. Hoffentlich hat sie ein trockenes Plätzchen gefunden.
Mein „trockenes Plätzchen“ ist auf der Höhe, die den schönen Namen Loretto trägt. Fühle mich schon irgendwie italienisch oder südtirolerisch oder weiß nicht genau wie. Jedenfalls bin ich so dankbar, diese wunderbare, mir bis dahin völlig unbekannte Gegend über die Feld,Wald,Wiesen und Bergwege zu erkunden.
Zum Sonnenuntergang gibt es noch einmal einen Blick in die Alpen. Ja, es hat dort geschneit. Ich kann die Schneefelder auf den fernen Bergen in der Abendsonne glänzen sehen. Danke. Großer Bär wacht in der klaren Nacht vor meinem Fenster. Das Leben ist schön.
Tag 35: Loretto – Riedlingen
Guten Morgen, lacht die Sonne. Und hinter ihr kommen Onkel und Tante Wolken, grau in grau …
Also will es gut geplant sein, in Blick auf die überdachten Möglichkeiten am Weg, wann und wie will ich wohin losgehen? Ich bin heute erstmal auf dem HW7 unterwegs, weil mir die Aussicht, mit dieser Aussicht bei Loretto zu übernachten es unbedingt wert war, den HW5 zu verlassen. Also, neue Wege, neues Glück und los geht‘s!
Herrlich geht es erstmal an meckernden Ziegen vorbei, über einen Biohof, der von so bezaubernden Nutz- und Blumengärten gesäumt ist, dass es mir ganz warm ums Herz wird. Ja, so etwas könnte, wollte, täte ich mir auch schön vorstellen … Zum Glück habe ich noch 3 Wochen und geschätzte 300 km Zeit, mir meine eigene Zukunft über den Weg zu träumen.
Dieser Weg führt mich aus malerischer Höhe hinunter Richtung Zwifalten, immer entlang der Zwifalter Aach. Ich sinniere über die Zweifaltigkeit und ob sie vielleicht eine Gemahnung an die Zeit vor der Idee der Dreifaltigkeit sein könnte. Also Tag UND Nacht. Hell UND dunkel. Mann UND Frau – nix mit ODER. Natürlich kommt mir auch das Wörtchen Zweifel in den Sinn und die Frage, woran ich, bitte sehr, noch wie stark zweifele, und warum.
In der Aach bei Gossenzugen (was für ein archaischer Ortsname) schwimmt über eine erstaunliche Strecke ein goldorangener Fisch neben mir her. Keine Ahnung, was der hier zwischen Regenbogenforelle und Saibling sucht. Alles ist hier mild: der Wind, der Duft, der Fluss des Wassers, die Farben … irgendwie wird es mir heilig zu Mute.
Zwifalten naht, auf dem Turm des Münsters brütet ein Storch , es ist gerade mal 9 Uhr. Erst jetzt erfahre ich, dass das gesamte Gelände eine Psychatrische Einrichtung mit langer Tradition ist. Ein großer angelegter Park umschließt hier diverse Gebäude mit unterschiedlichen Stationen. Die Münsterkirche selbst ist geöffnet. Ich bewundere die helle, freundliche Palmenatmosfäre und fühle mich bereit zum Lied des Tages: Mein Sanctus, heilig ist es mir.
Auf dem Weg in den Ort, um mir einen Vormittagskaffee zu genehmigen, lese ich an Infotafeln, welch traditionsreiche und auch wechselvolle Geschichte diese Psychatrie hat. Dass während der Zeit des Nationalsozialismus etliche Menschen aus dieser Einrichtung mit grauen Bussen direkt in die nächstgelegene Gaskammer abtransportiert und getötet wurden. Euthanasie, der in diesem Zusammenhang geläufig verwendete Begriff ist grausamer Hohn, wenn man bedenkt, dass er sich aus den Worten „Eu“ für gut und „Thanatos“ für Tod zusammensetzt. Von allen guten Geistern verlassen.
Im Bäckerei-Café an der Hauptstraße werde ich sehr nett und interessiert bedient. Die Landstreichlerin erfährt hier offenes Interesse und Entgegenkommen. Der Kaffe schmeckt sehr gut und was ich hier im Verlauf der nächsten halben Stunde an Gesprächen lauschen darf, ist unbezahlbar. Jeden Theater-Autor, der solche Szenen in seinen Heimat-Schwank schriebe, würden sie schelten wegen unrealistischem Überschwang. Kleiner Auszug:
“Ha woisch, i han es seit neueschdem mit em Herze.“ „I au“ „Ond was machsch.“ „I nähm Tabletta“ „I au. Ab‘r mein Herz schlägt z‘langsam, des isch es Probläm.“ „No musch halt mehr hupfa.“
Dialoge für die Ewigkeit, danke.
Mein Weg führt mich jetzt von Zwifalten mit seiner Klosterbrauerei, in der wirklich köstliches Bier gebraut wird, hinauf nach Zwifalten Dorf. Der Dorfbrunnen ist wirklich eine Besonderheit. Der Platz ist abschüssig, der Brunnen thront in der Mitte, als könnte er alle Energien, die da vom Berg zum Tale strömen, auffangen, abfangen, sichern, beruhigen.
Die Madonnenfigur ist zwigesichtig. Zwifalten, Zweifaltigkeit, Zweifel … diese Madonna schaut mit erwartungsfrohem Blick hinauf zum Berg, was möge da Gutes aus den Höhen empfangen werden, und schaut aber auch umsorgend, das Kind der Welt in den Armen, dem Brunnenbecken, dem Dorfe zu, als wolle sie all das Gute, Empfangene dem Dorfe spenden.
Über den angrenzenden Feldern kreisen Storch und Milan friedlich umeinander herum: Leben UND Sterben, oben UND unten, ohne wenn UND aber. Auf dem Weg liegt ein toter Maulwurf, erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es ein Maulwurf ist, der da auf dem schwarzen Asphalt liegt, denn sein Fell ist hell, gelbgold. Die Grabehändchen zeichnen ihn eindeutig als Maulwurf aus. Gold wie der äußerst lebendige Fisch am Morgen. Und hier nun tot mit Blutfleck auf der Goldenen Brust.
Schwarz-Rot-Gold geht es mir durch den Sinn, als ich ihn vorsichtig in der Böschung beerdige. Auch das ist Deutschland, durchzieht es mich weiter, obwohl ich aus dem Stand nicht mal sagen kann, wie dieser drei Farben in der Flagge dieses Landes, das als Nationszugehörigkeit in meinem Pass eingetragen ist. Singen kann ich dem güldenen Maulwurf zum letzten Geleit allemal.
Nach einem schönen Abstieg OHNE weiteren Blick in die Alpen komme ich ein einer Kirche mit gusseisern umzäunten Friedhof entlang, singe erneut und bekomme auf der Wiese des Vorgärtleins eine große Storchenfeder geschenkt, weiß UND schwarz.
Bald ist der Moment, der Wegabzweig gekommen, ich nähere mich der Donau. Kann nicht sagen, warum mich das so rührt, was dieser Fluss, oder allein die Assoziation durch den Klang, den Namen in mir auslöst. Danube, einstens wohl als große, weibliche Gottheit verehrt. Donau so blau … heißt es dank Strauß dann spätestens ab Wien und sie ist hier wirklich alles andere als blau und auch noch kein starker Strom.
An der Brücke erwartet mich Sankt Christoph und ich lasse mich sehr gern von ihm hinüber begleiten. Über den Jordan … über die Wupper … Formulierungen für den Übergang, nicht für das Ende.
Jetzt also über die Donau, und spontan beschließe ich, noch ein wenig länger an der Donau zu bleiben, wechsle auf den HW7 und komme schließlich – trocken und heiter und mit einer durchschnittlichen Laufgeschwindigkeit von 6,2 Stundenkilometern in Riedlingen an, von Störchen begleitet, von Störchen erwartet. Hier prangen etliche Nester auf den Türmen der Stadt und das Geklapper ist schönste Musik.
Ich kann nicht einschlafen, und das will etwas heißen, denn ich kann sonst immer schlafen, überall. Zuerst hält mich das alkoholisierte Gegibbel zweier junger Frauen wach, die direkt unter meinem Fenster auf einer Bank Platz genommen haben. Wie elektrisiert, zähle ich die Sekunden bis zur nächsten hysterischen Lachsalve der einen, im Wechsel mit den teils aggressiven Bölkattacken der anderen.
Irgendwann kommt segensreicher und ruhestiftender Regen. Doch dann ist es die nahe gelegene Kirchturmuhr, die hier unbeirrt die Nacht über jede Viertelstunde anschlägt und zwar exakt mit den beiden ersten Tönen aus dem Quartett aus Beethovens Oper Fideleonore „Mir ist so wunderbar“ und mir den Schlaf unmöglich macht. Mir wird und bleibt irgendwie sonderbar. Alle 15 Minuten eine neue Gedankenschleife, das macht sicher mehr als 150 shades of grey.
Tag 36: Pause in Riedlingen
Ausgeschlafen und gutgelaunt ist anders.
Aber bei soviel Eindrücken und so vielen Erlebnissen, so vielen Kilometern und Landschaften ist es selbst mir völlig einleuchtend, dass es dieser Ruhetage dringend bedarf.
So darf ich heute wieder schreiben und das tut mir gut.
Zwischendurch gibt es einen kleinen Ausflug durch die „Perle an der Donau“, wie sich Riedlingen selbst vielversprechend beschreibt. Und es ist wirklich besuchenswert. Eine hübsche Altstadt mit „Storchenpalästen“, auf der anderen Uferseite eine Anlage, eine Urwald, eine Art Mangroven-Landschaft, die einen unvermittelt vom Uferweg verschluckt, beeindruckend.
Kapuzinerkloster und Kapelle unserer Lieben Frau werden noch trockenen Fußes besichtigt. Hier lässt es sich entspannt singen und ein wenig in der letzten Sonne vor dem nächsten Gewitterschub ausruhen.
Ich flüchte vor Regen und lande im wahrscheinlich unattraktivsten aber ältesten Café der Stadt. Schreibe an meinen Eindrücken der letzten Tage und bin froh, hier so ungestört in meinem inneren Autistenzelt werkeln zu dürfen.
Bei Sonnenschein ziehe ich um ins schöne Café am Fluss, sitze beseelt auf einer hübschen Terrasse über der Donau und denke an Essen, wo es ein Lokal mit dem gleichen Namensschild gibt.
Draußen komme ich nach einer weiteren Schreib-innere Autistenzelt-Einheit mit einem Fahradfahrer ins Gespräch, der sich an meinen Tisch gesellt hat. Wie schön, auf seine Fragen hin meine Erlebnisse und Erfahrungen teilen zu können. Es sind die Verbindungen – von einem Ort zum andern, von einem Menschen zum anderen, von einem Tag zum anderen, die diese Zeit so wertvoll machen.
Bereitsein für das Unerwartete.
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