24 Jul franzi geht dann heim – Zwischenblick V
Nun bin ich seit exakt einem Monat auf Wanderschaft, auf Pilgerreise – Peregrinacion, wie es auf spanisch so wohlklingend heißt. Und ich assoziiere recht frei das Verb „nacer“ dazu und meine, mich in dem Anhauch von „wiedergeboren werden“ wiederzufinden. Die Landstreichlerin, so fühle ich mich.
Ja, diese Pausentage sind wichtig, um immer wieder einen Anker zu setzen, das Erlebte zu verarbeiten und dem Erkannten und Geschauten angemessenen Raum zu geben.
Dieser vergangene Abschnitt hat mir vielfach den Buße-Aspekt einer Pilgerreise präsentiert. Und das war so ungefähr das Letzte, was ich mir ausgemalt habe, als ich vor einem Jahr die Idee entwarf, mit #franzigehtdannheim von aktuellem Wohnort über Geburtsort zu Sehnsuchtsort zu spazieren.
Doch gerade die Überraschungen, das Unbekannte und Unerwartete machen diesen Weg so wertvoll. So kann ich jetzt schon klar sagen: Es entspricht mir und meiner Wahrnehmung, meiner Langsamkeit und „Schaulust“ sehr viel mehr, einer Ort über den Feldweg zu erreichen, als über den Flughafen. „Etwas überfliegen“ kommt mir in den Sinn, und dass ich eben nichts mehr eilig überspringen will. Erinnere mich an mein Bild „von A nach B“, und dass es auf das NACH ankommt. Der Weg ist das Ziel, für mich eben der Feldweg.
Jetzt sitze ich also in einem kleinen Dachstübchen in der JuHe in Tübingen, direkt am Neckar und schaue zurück: was war denn da los, in den letzten Tagen.
Auch hier und heute gilt: Rechtschreibung, Textaufbau und Verlinkung werden zu einem späteren Zeitpunkt nachpoliert. Jetzt geht es ums Festhalten. „Priorität & Position“, das beschäftigt mich derzeit: Was, wann, warum und wofür.
Tag 27: Pforzheim – Weil der Stadt
Das war ein besonderer und reizender Aufbruchsmorgen in Pforzheim. Hat mir Tanja Deutsch doch ein köstliches Frühstück im Garten kredenzt UND meinen Vesperhorizont um die neue Erfahrung veganer Landjäger erweitert, so lecker!
Hier möchte ich kurz eine Beobachtung einflechten: ich erlebe immer wieder Gespräche, in denen sich der „eingefleischte Mischköstler“ und natürlich auch die eingefleischte Mischköstlerin mit überraschender Hitzigkeit darüber aufregt, warum diese Veganer, wenn sie schon nix Tierisches essen wollen, die Wurstoptik und Fleisch-Habtik unbedingt nachbauen müssen. Die Antwort ist ganz einfach: weil es lecker ist. Und ganz ehrlich: so eine Chicken-Nugget aus der Discouter-Tiefkühltruhe hat unter Umständen noch weniger mit Hühnchen zu tun, als mein Landjäger mit Pflanze.
Ich habe eher das Gefühl, dass es das „Grenzüberschreiten“ ist, was manche Menschen unsicher macht, und bevor einmal in Ruhe reflektiert wird, von wegen: jedem Tierchen sein Pläsierchen (und ob diese Tierchen in der Massenhaltung Pläsierchen erleben, brauchen wir an dieser Stelle nicht diskutieren), da wird also lieber lauthals draufgeballert, verurteilt. Geht schneller, macht effizienteren Lärm und man kann sich in seiner eigenen Mehroderweniger-Komfortzone einigeln. Soviel zum jetzigen Zeitpunkt dazu.
Für mich geht es heute auf Neue Wege: Genauer gesagt auf den Schwarzwald – Schwäbische Alp – Allgäu- Weg, den HW5 des Schwäbischen Alp-Vereins.
Vom ersten Schritt im Schwarzwald an der Würm entlang, atme ich Erinnerung. Der Wald duftet mich in meine Kindheit zurück. Schritt für Schritt bekomme ich eine Ahnung, dass das mit der „Heimat“ ein etwas kompliziertes Thema ist. Mein DNA jubiliert. Im Mandelkern, in der Amygdala, einem der ältesten Teile unseres Gehirns, findet die Geruchsverarbeitung statt, besser, die Verknüpfung. Duft: Zack – da war es schon mal gut, oder Zack- weg da!
Hier ist es jedenfalls schon mal sehr gut!
Ich komme an einer kleinen Waldkapelle vorbei und stimme spontan zum heutigen „Lied des Tages“ Elvis Presleys „Crying in the Chapel“ an. Diese kleinen Liedschnipsel gibt es auf Facebook und Instagram. Das komplette franzigehtdannheim-Songbook gibt es am 26.August in Essen zum Kunstbaden, mitsamt meinem Reisebericht. Ich freue mich auf den Austausch und eure Fragen. Karten unter: kunstbaden@jelena-ivanovic.com
Weiter geht‘s. Der Wald ist wirklich dunkel und der Weg heiter. Ich komme an der „Jakobsquelle“ vorbei. Hier stand wohl in sehr grauer Vorzeit eine Rasthütte für Jakobs-Pilger. Wie schön, dass ich doch immer wieder an meinen Jakob erinnert werde: wieder entwickle ich dieses Bild vom Wegenetz weiter, dem äußeren, aber auch meinem inneren, neuronalen oder seelengeflechtlichen.
Ich erinnere mich: wenn man neue Angewohnheiten etablieren will, muss man sie mindestens 28 Tage regelmäßig wiederholen, um diese neue, innere Bahn zu festigen. Ich festige gerade den Weg, das Bewegende.
In Weil der Stadt angekommen, statte ich der großen Statue des berühmtesten Kindes der Stadt, Johannes Keppler, einen Besuch auf dem schönen Altstadt-Marktplatz ab. Auch hier haben sie den Platz zur Strand-Bar aufgeschüttet. Ich erhebe mein Bier auf Keppler, den Bademeister!
In meiner antik-rustikalen Gaststätte Stern kommen wunderbare Erinnerungen an ganz frühe Schiurlaubs-Pensionen auf. Ich träume in der Nacht wunderbar.
Tag 28: Weil der Stadt – Herrenberg
Zum Frühstück geht es heute in die benachbarte Bäckerei Mayer. Gut, ich bin vielleicht noch nicht ausreichend sprachlich sortiert. Auch sehe ich inzwischen wirklich etwas wilder aus: Vitiligo (Weißflecken-Autoimmun) frisst sich mit seinen weißen Flecken in meine sonst schon recht wettergebräunte Haut.
Auf meine Frage, ob ich hier einen Kaffee bekomme, ernte ich einen sehr abschätzigen Blick und den Satz: „Wenn Sie den bezahlen können.“ auf schwäbisch. Jedes der 5 Worte ein Peitschenhieb.
Schlagartig bekomme ich eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen könnte, aus der Gesellschaft noch weiter raus gekippt zu sein. Wie fühlte es sich wohl an, wenn in meinem kleinen, roten Portemonnaie jetzt wirklich nicht genug Geld für diesen Kaffee wäre.
Abschätzig, abwertend, verurteilend. Bloß, weil ich so aussehe, wie ich derzeit aussehe. Der Landstreichlerin ist da plötzlich das zweite „l“ abhanden gekommen.
Ich könnte zum Gegenschlag ausholen, von wegen Unverschämtheit und Kundenservice. Ich lasse es. Viel spannender ist doch, was es in mir auslöst, nicht dazu zugehören. Ein Gefühl, das mir sehr vertraut ist, jetzt aber in einer tieferen Dimension spürbar wird. So versichere ich ihr, dass ich mir sogar noch eine Brezel dazu leisten kann und unterhalte mich mit ihr über den zu erwartenden milden Wespen-Sommer und ähnliches.
Bald verlasse ich die Stadt durch die Überreste des Stadttors und frage mich, ob Menschen, die in Ortschaften mit einen sichtbaren Stadtmauer leben, klarere Abgrenzung dem Fremden entgegenbringen, als andernorts.
Jetzt geht es in den Wald auf dem Kepplerweg und ich freue mich über die verschiedenen Schau- und Erklärtafeln zum Wirken des Astronomen, Physikers, Optik- und Mathematik-Revoluzzers, der dem Gymnasium in Bad Cannstatt, an dem ich die ersten 5 Jahren in Latein, Mathe und Physik versagen durfte, den Namen gab.
Heute und hier verstehe ich plötzlich, wie das mit der exakten Flächenberechnung über Dreiecke funktioniert, und noch viel mehr. Und dass die Sternwarte in Tübingen den Nullpunkt, quasi Nabel der Welt, bei der Kartografierung darstellt, ergibt für mich mit meinem Geburtsort ebenda unbedingt Sinn.
So sinniere ich durch den Wald, komme an einem zauberhaften Hexenhaus vorbei. Hier hat ein ganz feiner Geist wunderbare Details des Ungewöhnlichen geschaffen. Eine in der Mitte längs zersägte Cello-Decke samt F-Löchern wird zu Fensterläden der Katzenklappe und noch viel mehr.
Ich denke also über die Kraft des Unkonventionellen und den Unterschied vom Wahrscheinlichen und Möglichen nach, da wähle ich quasi blindlings den breiten Abzweig und stelle erst nach Kilometern fest, dass genau an diesem Zauberhaus mein kleiner Zauberabzweig gewesen wäre.
Mehrere Kilometer als Extra-Runde und ich bin wirklich fast im Kreis gegangen. Habe für diese Überlegungen, wie weit ich mich wohl aus dem Konventionellen und Wahrscheinlichen ins zauberhaft Mögliche bewegen will, eine Extrarunde gebraucht. Alles auf dem Weg gehört zur Medizin.
Am Weg prangen Warnschilder, dass hier der Eichenprozessionsspinner sein gefährliches Unwesen treibt. Prozession, Prozess, Spinner – ich fühle mich angesprochen und gehe grinsend weiter.
Alles fügt sich. Genau, als es beginnt zu regnen, komme ich an die Haltestelle, des Schienenersatzverkehrs. Der Bus ist bereit und ich verkürze auf angenehme Weise meinen Weg nach Herrenberg.
Hier angekommen, ist es wieder trocken und schön. Ich flaniere durch die schöne Altstadt – auch hier ist der Marktplatz zum Meeres-Sehnsuchts-Urlaubs-Strand aufgeschüttet und mir wird wieder klar bewusst, dass Strandurlaub überhaupt nichts für mich wäre. Ich werde sofort unruhig mit diesen kleinen scharfen Körnchen überall. Von unruhig schwabbelnden Meereswogen und ständigen Salzwind im Auge ganz zu schweigen.
In der erhaben gelegenen Stiftskirche darf ich wirklich virtuosem Orgel-Spiel lauschen und irgendwie wirkt der Jakob in diesen sakralen Räumen und Klängen weiter.
Ja, es ist gut und richtig und schön, dass ich hier bin, wo ich bin. Am Beginn des Schönbuchs, zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alp, wo ich die ersten, wirklich glücklichen, sechs Jahre meines Lebens gedeihen durfte.
Tag 29: Herrenberg – Entringen
Über verwunschene Streuobstwiesen geht es für mich heute nach Entringen, mit all den schönen Erinnerungen an meine ersten roten Rollschuhe zum vierten Geburtstag, die riesigen Schafherden-Weiden, Kindergarten-Ausflüge nach Hohenentringen und Kirschen. Tatsächlich, ein wirklich letzter Kirschbaum schenkt mir hier die letzten 3 essbaren Kirschen.
So nähere ich mich über die Schönbuchspitz, gedenke und danke diesem „Apu“, dass ich so schöne Kindertage unter seinem Schutz erleben durfte und komme weiter im Wald zum „Mädle-Stein“. Der birgt für mich nicht nur EIN kurioses Geheimnis: zum einen steht er unscheinbar etwas abseits hinter einer Abzweigung. Das Informations-Schild mit der Beschreibung steht wiederum hinter dem gegenüberliegenden Kreuzungs-Abzweig. Und darauf steht, das dieser Stein (eine Nachbildung) in Erinnerung an eine junge Entringerin hier steht, die nach dem Heuen, also mit ordentlich Heu in der Rückentrage, hier versehentlich für einen Hirsch gehalten und erschossen wurde.
Kein Wort vom Jäger, weder mit noch ohne Hochsitz. Sofort flammt in mir auf, dass dies womöglich die schändlichste Vertuschung eines schnöden Mordes wegen nicht erwiderter Liebe sein könnte, und dass so einem Jägersbursch in der patriarchalen Gesellschaft mehr Unterstützung zu Teil wird, als es ein Frauenleben der gerechten Verurteilung wert ist. Gänzlich verschweigen lässt es sich nicht, also bekommt sie hier so eine Art gnädigen Gedächtnis-Stein.
Ich schmücke sie mit Blumen und Beeren und heraus krabbelt eine giftgrüne Spinne … Prozessions-Spinnerin.
Über Hohenentringen und einen Besuch im Biergarten des Schlosses geht es weiter. Der Blick schweift hier weit, es windet stark, der Waldrücken zieht nach Osten. „Saurücken“ heißt es hier. In der Tat sind auf dem folgenden Weg viele Wildschweinspuren zu sehen. Das Schwein als Sinnbild für Fruchtbarkeit, Wohlstand und Glück. Von unseren Vorfahren rituell im Schweinebraten verspeist, so geht es mir durch den Kopf und ich genieße ganz bewusst meinen gebratenen Leberkäse, bei blendenden Aussicht. Schwein gehabt.
Im Ort selbst sehe ich große Baustellen, große Veränderungen stehen also auch hier an und in Seelentiefen spüre ich, dass dieser Besuch heute wichtig war und ist, um eigene innere Fragen zu beantworten oder nach der Leerstelle zu suchen, und so wird es zur Lehrstelle.
Ich statte der Michaelskirche, die sich seit Jahren trotz massiver Baumaßnahmen leicht zur Seite neigt, einen Besuch ab, komme genau rechtzeitig zum Liturgischen Abendgebet. Zu viert singen und beten wir im Wechsel, ein sehr schönes Erlebnis – ich kann ja doch vom Blatt singen, hurra.
Tag 30: Entringen – Tübingen
Am Morgen breche ich bei kühlem, klarem Wetter auf und lasse Entringen hinter mir, im doppelten Sinn. Am Waldsaum drehe ich mich nochmal um: wie schön der leicht schiefe Turm der Michaelskirche in der Morgensonne leuchtet!
Und wieder geht es wonnevoll mitten hinein in den Schönbuch. Durch eingezäunte Rotwild-Schonungen komme ich am „Bruderkreuz“ vorbei – greife intuitiv das Franziskus-Kreuz an der Halsschnur,das mir Bruder Dirk in Beyenburg mit auf den Weg gegeben hat, und das nun von einem Rosenkranz aus Neviges und einem Bernstein aus Herrenberg flankiert wird. Mit allen dreien verbinde ich tief prägende Geschichten dieses Weges.
Auf der nächsten offenen Wiese ist eine öffentliche Feuerstelle, jetzt gerade einsam und still. Nur ein kleiner Zettel verrät, dass hier vor nicht allzu langer Zeit, zumindest NACH dem letzten Regen, jemand war. Ich hebe ihn auf, so wie ich immer Müll einsammle, wenn es mein Rucksackgewicht und die Geländesituation (des erschwerten Bückens wegen) zulassen.
O staune, es ist kein Müll, alles andere als das. Eine kleine Kopie eines Psalms, der mich hier genau in diesem Moment beglückt. Von der Idee „Zufall“ habe ich mich längst verabschiedet.
Dann erreiche ich den bezaubernden Ort Bebenhausen, und das mit dem Nicht-Zufall nimmt seinen Lauf: just genau heute und jetzt wird im Ort das 200-jährige Jubiläum mit einem berührenden Ökumenischen Gottesdienst in der Klosterkirche gefeiert, mit Chorgesang und Orgelspiel. Zum Abschluss wünschen der katholische Pfarrer und die evangelische Pfarrerin – unter anderem – dass die Kinder an einem guten Ort heil und unbeschwert aufwachsen dürfen, und ich danke innerlich: ja, ich durfte hier in dieser Gegend heil und unbeschwert aufwachsen.
Und das waren noch nicht alle wunderbaren Fügungen des Tages! Ich befinde mich plötzlich wieder auf dem Jakobsweg und freue mich, wieder für ein Stück der gelben Muschel folgen zu dürfen.
Ich komme über den Feldweg nach Tübingen hinunter durchs Käsbachtal. Stehe plötzlich und unerwartet am berechneten Mittelpunkt von Baden-Württemberg. Nachdem hier dank Keppler der Ausgangspunkt aller Landes-Berechnungen liegt, nun auch noch digital bestätigt der Mittelpunkt. Und hier bin ich zur Welt gekommen!
Ich beziehe mein kleines Jugedherbergszimmer, genieße die Dusche und mache mich nochmals auf den Weg, um meinen Onkel zu treffen, der hier seit 60 Jahren lebt – für diese Kontinuität beneide ich ihn ein wenig und stelle schnell fest: er wohnt genau doppelt solange hier in Tübingen, wie ich in Essen, verblüffend.
Wir beide schlendern also durch die Altstadt und fragen gerade so, wo es jetzt ein feines Stück Kuchen für uns gibt und was es denn heute in der Stifts-Kirche los ist. Erfahren, dass sie als große Kooperation von Ulm und Tübingen Max Bruchs Moses-Oratorium geben. 10 Minuten später gibt es für Onkel und Nichte also nicht, wie geplant, Kaffee und Kuchen, sondern eine bombastische, musikalische Umsetzung von alttestamentarischer Wucht um Schuld und Sühne, nichts Geringeres.
Für meine Ohren ist es etwas zu viel Dauer-Dramatik, kaum leise Passagen zum Durchatmen. Doch als der Schlusschor ansetzt, überzieht mich die Gänsehaut und mir fällt auf, dass hier, quasi im Außen diese Themen von Schuld, Sühne und Buße verhandelt werden, die mich im Innern die letzten 4 Jakobsweg-Wochen begleitet haben.
Es geht immer wieder um das Konstrukt des Dreiecks der Entmächtigung: Täter, Opfer, Retter. Egal, welche Situation, meist befinden wir uns wechselnd, wandelnd in einer der drei Positionen. Ich will da raus. Will kein Drama mehr, will nicht mehr kämpfen, nicht mehr streiten, nicht mehr recht haben, nicht mehr schneller sein, nicht mehr schöner sein, nicht mehr gewinnen. Mich nicht mehr so arg anstrengen – von wegen Strenge. Es darf ab jetzt gern leicht sein. Position und Priorität.
Viele Momente und Ereignisse der Vergangenheit sind da noch einmal vor dem inneren Auge vorbeigezogen, und das war nicht nur heiterer Spaziergang. Ich bitte all jene, denen ich bewusst oder unbewusst Schmerz oder Schaden zugefügt habe, aus tiefem Herzen um Entschuldigung. Warum mir dazu „Kirchenprozessionsspinner“ einfällt, muss ich noch ergründen.
Zum Abendessen gibt es für Onkel und Nichte „Pinse“, auch eine (für mich) neue Häufung beim Italiener. Pizza war gestern. Jetzt ist Pinse, mit 120 Stunden im Kühlschrank gereiften Sauerteig, der letzte Sh…schrei. Und lecker obendrein!
Irgendwann falle ich in mein JuHe-Bettchen und freue mich, am nächsten Tag bei erwartetem Regen und Gewitter eine Pause einzulegen. Was das Wandern betrifft. Der Rest wird sich zeigen, morgen.
Tag 31: Pausentag in meinem Geburtsort
Was für ein tolles Frühstücks-Angebot mit Blick auf den malerischen Neckar samt zweier Schwäne. Auf dem Büffet fast alles Bio, da kann sich manch Hotel drei Scheiben von abschneiden, JuHe!
Ich bin so froh, in den letzten Wochen die „Unendliche Einfachheit des Seins“ (Milan Kunderas Buchtitel sei hier entlehnt) in den Pilgerübernachtungsstätten und Jugendherbergen, in den Klöstern und Gemeindehäusern erlebt zu haben. Denke wieder einmal an Hesses „Stufen“ … an nichts, wie an einer Heimat hängen …
Hesse, der im baden-württembergischen Calw geboren ist, steht heute aber gar nicht an, sondern mein „liebschter Schwabe“, wie Schiller ihn nannte: Friedrich Hölderlin. Natürlich kann es keinen Aufenthalt in Tübingen für mich geben, ohne ihn in seinem gelben Turm zu besuchen.
Jedes Mal entdecke ich etwas Neues, in seiner Sprache, in seiner Lyrik, in seiner Schau, in seinem Lebenslauf. Heute ist es das Gedicht „Keppler“.
Noch lange nach dem ich das Museum im Hölderlin-Turm verlassen habe, sinniere ich darüber, wie diese beiden Schwaben mir die Welt neu vermessen, oder so ähnlich … Da läuft eine junge, eine sehr junge Frau an mir vorbei, sendet wohl gerade eine Sprachnachricht. Es sieht so aus, als würde sie in ein Knäckebrot sprechen, irgendwie albern. Aber was ich da zu hören bekomme, ist alles andere als albern: „Den Sinn des Lebens sehe ich tatsächlich weniger darin, zu arbeiten, sondern andere zu bereichern.“ Das hast du mit diesem Knäckebrot-Satz geschafft, junge Frau. Danke.
So schlendere ich zwischen Regenschauern und Gewitterdräuen durch die hübsche und geschichtsträchtige Altstadt, spaziere zur Jakobskirche, singe eine schöne Runde und erhalte beim Schuster gegenüber einen weiteren Stempel in meinen Pilgerpass und den Anblick des besten „Chiller-Schildes“ seit langem!
Apropos „Chiller“: zurück in der JuHe und oben in meinem Dachstübchen wird es plötzlich laut auf dem Gang. Eine neue Jugendgruppe ist angereist. Sämtliche männlichen Halb- bis Dreiviertel-Starken sind jetzt meine Etagen-Nachbarn. Wunderbarer Jungbrunnen, weil ich ja für nichts von denen verantwortlich bin. Weder für ihre Rülpser, noch für ihre männlich herben Deodorant-Duftwolken und schon gleich gar nicht für ihren „Chill-mal-Digger“-Slang, bei dem ich den Eindruck habe, sie hätten alle die selbe Stahlfeder zwischen Nasenwurzel und oberer Schneidezahnreide gespannt, um der Hohlheit ihrer Worte wenigstens Karacho zu verleihen.
Aber wer bin ich schon, so etwas zu sagen? In deren Augen eine alte, im Gesicht kuhgefleckte, alleinige Frau. Genau. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Mal wieder frei nach Pipi Langstrumpf: Ich schau in die Welt, widde-widde-wie sie mir gefällt.
Diese alte Frau, frisch dem Jungbrunnen entstiegen, geht durchs Treppenhaus und entdeckt ein schmiedeeisernes Geländer, in dem das Baujahr festgehalten ist, 1936. Vor dem Gebäude angekommen, lese ich auf einer Informationstafel, dass dieses Gebäude damals von den Nazis als Einrichtung zur Schulung für die Hitlerjungend und den Bund deutscher Mädels erbaut wurde.
Schweres Erbe. Gut, dass es hier in Tübingen nicht verschwiegen wird, dass es nicht vermeintlich vergessen wird, um im Dunkeln zu gähren. So komme ich zum Schluss dieses Artikels und zum Ende dieses Tages noch einmal auf das Dreieck der Entmachtung zu schreiben: Jede Zeit hat ihre Täter, ihre Opfer und ihre Retter und wie sich die Einzelnen selbst definieren. Was die Zeit des Nationalsozialismus betrifft, komme ich aus einer Täterfamilie. Es schmerzt. Jeder möchte lieber sagen können: „Mein Opa war im Widerstand! Meine Oma hat jüdischen Mitbürgern zur Flucht verholfen“ … nicht so bei mir. Gar nicht. Reden ist Silber und schweigen macht krank, davon bin ich in diesem Zusammenhang überzeugt.
Auch das gilt es klar anzunehmen: Ich bin nicht meine Geschichte. Ich stehe ein für Mitmenschlichkeit, Toleranz und Freiheit. Und ich übernehme Verantwortung für den Bereich, den ich mit meinem Tun, meinem Lassen, meinem Singen und meinem Schreiben beeinflussen kann. Priorität & Positions-Spinnerin.
So schön ist diese Erde, sagt die Landstreichlerin, und wir sind hier alle zu Gast. Bitte lasst uns anständig benehmen.
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