Sieben Jahre ist es her

Von der Kante meines Kalenders stürzt die Zeit

… so lautet der Titel des Gedichts, das ich vor genau sechs Jahren geschrieben habe.

Heute vor sieben Jahren ist mein ältester Sohn aus dem Leben gesprungen. Für das Grauen werde ich hier keine Worte finden. Die tröstlichste Erkenntnis dieser Jahre ist: die Erde dreht sich weiter, ich lebe und liebe, nach wie vor und ungebrochen. Es geschieht so viel in der Welt, da tut Besinnung manchmal not. So lese ich die Zeilen des Gedichts, blicke hinaus und bewundere das Lungenkraut, wie es heuer schon so prächtig blüht. Das Leben ist schön!

Von der Kante meines Kalenders stürzt die Zeit

Im Regal stehen Rücken an Rücken

schwarz bemäntelte Wächter der Jahre.

Wieder gesellt sich ein Neuer hinzu, 

versammelt gesammelte Zeichen vom Lachen, 

Weinen,  auch anderen Sachen:

 

Fahrscheine, Blüten und Weinetiketten,

Einträge von Verabredungen,

die besser nie stattgefunden hätten.

Fotografien von Jahresfesten

mit immer wieder den selben Gästen,

 

die mein Leben eben säumen,

reihen sich aneinander. Jedoch

einer fehlt. Von ihm kann ich träumen.

Ich berühre sachte den Einband

und eröffne die Rückschau, wohlan:

 

Sechsmillionendreihundertsiebentausend

und zweihundert Atemzüge getan.

Meine Brust senkte sich, hob erneut an

im Wachen, wie im  Schlaf,

wo ich ihn ab und an traf.

 

Achtundfünzfigtausendundsieben-

hundertsechundachtzigmal

hat der Zeiger die Zwölf passiert,

mittags um drei völlig ungeniert

seine Stunde geschlagen.

 

Dreihundertsechs-, ja sechsundsechzig 

Kalenderseiten in Leder gewandt.

Eine Neunundzwanzigte zugeschaltet,

weil es sich eben länger gestaltet,

dieses vergangene, letzte Jahr.

 

Zweiundfünfzigmal vor eig’ner Tür gekehrt,

davor das Wochenhoroskop studiert.

Nie mehr das eine Tierkreiszeichen.

Steinböcke springen so oder so

im Gebirge, aber auch anderswo.

 

Zwölfmal schien vollkommen gerundet

die Blasse vom nächtlichen Himmel herab.

Einmal verfinstert – man sprach von Blut –

bloß rötlicher Schimmer war’s, der sie umgab.

Rot, wie die Liebe. Rot, wie die Wut.

 

Vier Jahreszeiten, vom Keimen zum Blühen, 

übers Reifen hin zu sterbender Ruh,

die zogen, nein – stürzten teils hin, im Nu.

Der Kreis ist geschlossen. Es beginnt aufs Neue

lebendiger Zyklus, auf den ich mich freue:

 

 Lungenkraut, Brennnessel, Gundermann sprießt,

Buchfink schlägt, ich liebe sein Lied.

Amsel flattert an die Fensterscheibe,

da frage ich mich, ob es beileibe

nicht etwas dezenter geht.

 

Ich spreche mit Bäumen, Blumen und Tieren

und hoffe, er kann mich mit ihnen hören.

An Wolken hefte ich sehnsüchtig Grüße,

auf dass der Wind sie zu ihm bließe,

wo immer das auch sei.

 

Auf meinem Schoß ruht in schwarzer Livree

der Zeuge dieses Jahres.

So ist, so war und so sei es.

Ich schließe und reihe ihn zu den Kollegen,

gemeinhin nennt man das ‚Leben‘.

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